Der versunkene Wald
denken. Es war richtig: Sie hatten ein langes Stück Weg in gerader Richtung zurückgelegt, und es war wirklich nicht sicher, daß sie sich noch immer unter dem Mont Saint-Michel befanden. Aber nach welcher Seite waren sie gewandert? Ohne Kompaß war es unmöglich, die Himmelsrichtung festzustellen, in welcher der Gang verlief. Er führte ständig in gerader Linie weiter, aber das Licht der beiden ,Scheinwerfer‘, so strahlend es ihnen zuerst erschienen war, erlaubte nur wenig Ausblick nach vorwärts. Müde von den ständigen Ruderbewegungen bat Raymond um eine Ruhepause.
„Gib mir den Tornister!“ sagte Pierre. „Jeder von uns muß einmal heran!“
Der neue zweibeinige Leuchtturm begann, vor ihnen herzuwandeln. Sie hatten noch keine zehn Schritte getan, als Pierre sich niederbeugte, um zu seiner Linken den Boden anzuleuchten. Er wies mit dem Fuß auf einen weißlich-grauen Gegenstand.
„Ich kann mich nicht bücken. Hebt das doch mal auf! Mir scheint, es ist etwas Interessantes.“
„Es ist weiter nichts als ein Kieselstein, mein Lieber. Du hast hoffentlich nicht vor, uns ein Kolleg über Geologie zu halten!“
Aber Pierre hatte geübte Augen und war sich darüber klar, daß es sich durchaus nicht um einen Kieselstein handelte. Kaum hatte Jean den Gegenstand aufgehoben, als er auch schon ausrief:
„Das sieht ja aus wie ein Geldstück!“
„Halte es vor mich hin, ins volle Licht! Ich habe ja die Hände nicht frei.“
Jean hielt das kleine Etwas zwischen die beiden Glühbirnen. Es war eine leicht eingebeulte Metallscheibe, von feinem Staub überzogen, der sich zwischen Daumen und Zeigefinger leicht abreiben ließ.
„Tatsächlich! Eine Silbermünze!“ rief Raymond.
Es war ein Geldstück aus abgenutztem und glanzlos gewordenem Silber. Auf der einen Seite waren undeutlich und verwischt Gestalten zu erkennen, die wie gepanzerte Krieger aussahen. Die andere, besser erhaltene Seite zeigte das Brustbild eines Mannes, umrahmt von einer Inschrift, die sich teilweise noch entziffern ließ:
VICTORINVS PIVS ST …
„Das … das ist nicht zu glauben …!“ murmelte Pierre und ließ überwältigt die Arme sinken. Die Beleuchtung erlosch.
„Was für eine Münze kann das sein?“ fragte Raymond. „Ein römisches Geldstück, mein Lieber!“
„Kennst du dich denn mit so etwas aus?“
„Ich habe einen Onkel, der Münzen sammelt. Es gibt Leute, die alte Geldstücke sammeln, so wie andere Briefmarken. Als ich einmal bei ihm war, hat er mir ein ganz ähnliches Stück gezeigt.“
„Kannst du dir denn vorstellen, daß dieser Gang aus der Römerzeit stammt? Das wäre fabelhaft! Aber dann müßte er ja viel älter sein als die ganze Abtei!“
„Ja, falls das Geldstück nicht in neuerer Zeit einmal zufällig hierhergeraten ist. Wir wollen sehen — vielleicht finden wir noch mehr.“
Er setzte den Riemen wieder in Bewegung, und das Licht erstrahlte von neuem.
Sie brauchten nicht lange weiterzugehen, um eine noch viel erstaunlichere Entdeckung zu machen. Ein Felssturz hatte hier den Gang zur Hälfte verschüttet; es sah aus, als sei unter ihm die ganze Decke zusammengebrochen. Ein walzenförmiger Granitblock ragte aus den Trümmern hervor. Eine Inschrift war darin eingemeißelt:
Alles übrige war unlesbar geworden.
„Ein Wegestein …“ murmelte Pierre.
„Ein Kilometerstein?“
„Nicht doch, ein Meilenstein! Die Römer berechneten die Entfernungen noch nicht nach Kilometern, sondern nach Meilen oder Wegstunden. Steine wie diesen hier findet man am Rande aller ehemaligen Römerstraßen, die Gallien durchquerten.“
„Aber wir sind doch hier an keinem Straßenrand!“
„Ich kann es mir auch nicht erklären“, gestand Pierre. „Wenn mein Vater hier wäre, würde dieser Stein ihn ungeheuer interessieren. Ich fange an zu glauben, daß unser Fund viel wichtiger ist, als wir denken.“
„Auf jeden Fall“, entschied Raymond, „gehen wir jetzt nicht weiter. Ich weiß nicht, ob wir an dieser Einbruchstelle so leicht vorbeikommen.“
Sie kehrten um und gingen ein Stückchen zurück. Allmählich übermannte sie die Müdigkeit. Es blieb ihnen nichts mehr übrig, als Stunden um Stunden auf eine Hilfe zu warten, die noch in den Sternen stand.
„Ich könnte schlafen …“ sagte Suzanne.
„Ich auch“, sagte Jacques.
„Ich auch“, sagte Jean.
Ein fünffaches Gähnen war im Dunkeln zu vernehmen; denn niemand hielt den Dynamo mehr in Gang.
Das Nachtlager, das sie sich bereiteten, war nicht eben
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