Der versunkene Wald
Man verlor hier unter der Erde jeden Zeitbegriff. Jetzt mußte die Ebbe den Strand rings um den Mont Saint-Michel freigegeben haben. In der Glut der untergehenden Sonne würde die feuchte Sandebene wie im Feuer erstrahlen. Auf der ,Großen Straße‘ drängten sich die letzten Besucher der Abtei in die Restaurants oder eilten ihren auf dem Damm geparkten Wagen zu. In Courtils richteten Michel Grandier und die beiden Brüder Petit ihre Zelte auf und fragten sich, warum sich beim großen Treffen der Meerkatzen nur ganze drei von ihnen eingefunden hatten. In Carolles trug Jeans Vater in aller Gemütsruhe seinen Liegestuhl in die tannenumsäumte Villa mit den Säulen zurück, nachdem er vorher seine Zeitungen ordentlich zusammengelegt hatte. In Saint-Pair rüstete sich die Familie Faugeras zu ihrem Abendspaziergang am Strande. Der kleine Christian, der mit seinen drei Jahren noch nicht zum Stamm der Meerkatzen gehören konnte, war vorher ins Bett gesteckt worden. In Granville überschlug Frau Lefévre in Gedanken die Liste alles dessen, was sie ihren Jungen mit gegeben hatte, und fragte sich zum hundertsten Male, ob sie auch nichts Wichtiges vergessen hätte … Alle Eltern waren seelenruhig und überzeugt, daß die Meerkatzen in ihren Zelten am Strand von Courtils nun bald in tiefen Schlaf sanken …
Nur in Avranches stellten vielleicht Herr und Frau Grellet fest, daß Suzanne wenigstens rechtzeitig zum Abendbrot hätte zurückkommen können. Suzannes Vetter Andre Vieljeux war ein bißchen betrübt, daß sie ohne ihn so lange bei dem Meerkatzentreffen blieb, zu dem er selber wegen seiner Erkältung nicht hatte gehen können. Um Mitternacht würde die Familie die Hoffnung aufgeben, daß Suzanne heute noch zurückkam, und es würde hin und her gestritten werden, wie ihr Ausbleiben zu erklären wäre. Vielleicht machten sich die Eltern auf den Weg, um ihre Tochter in Courtils abzuholen? Aber nein, vermutlich würden sie erst morgen in aller Frühe mit dem Wagen losfahren, und dann erst würden sie feststellen, daß Suzanne spurlos verschwunden war … Eine schöne Aufregung würde das geben!
Heute abend ahnte sicher noch niemand etwas Böses. Weder Väter noch Mütter konnten sich vorstellen, daß ihre Kinder in einem unterirdischen Gang gefangen saßen und sehnlichst auf ihre Befreiung warteten …
Sie warteten, aber ohne sich allzugroße Sorgen zu machen. Nachdem ihr Vorrat an drolligen Geschichten erschöpft war, schlug Raymond vor, den geheimnisvollen Gang ein wenig weiter zu erforschen. Soviel sie bis jetzt hatten sehen können, schien er keine neuen Gefahren zu bergen. Sobald sie auf ein unvermutetes Hindernis stießen, wollten sie keine Anstrengungen mehr machen, es zu überwinden.
Es ergab sich das Problem, wie sie ihre Lichtanlage auch im Gehen in Betrieb halten könnten. Die Lösung fand sich rasch. Raymond schnallte sich den Tornister auf den Rücken; die beiden Glühbirnen wurden an seinem Gürtel befestigt. Dann ergriff er die Enden des Riemens und stieß in gleichmäßigem Rhythmus abwechselnd den rechten und den linken Arm vor wie ein Ruderer, dem es Spaß macht, bald das eine, bald das andere Ruderblatt ins Wasser zu tauchen. Bei seinem Anblick: brachen die Gefährten in haltloses Gelächter aus.
„Ein Auto mit Scheinwerferlicht!“ erklärt« Jean.
Das Auto schaltete den Gang ein, und die Meerkatzen folgten ihm vorsichtig.
Was hier in uralten Zeiten erbaut worden war, mußte viel Schweiß gekostet haben. Der Gang war genau rechtwinklig in den harten Schiefer gehauen und wies wenige Spuren des Verfalls auf.
„Das Ganze hier könnte ein ehemaliger Keller der Abtei sein“, meinte Pierre.
„Aber warum ist er dann zugemauert worden?“
„Weil die Mönche ihn nicht mehr benutzten. Oder aus sonst einem Grund, den wir heute nicht mehr feststellen können. Jedesmal, wenn ein neues Bauwerk über einem alten errichtet wurde, hat man den oder jenen Gebäudeteil ungenützt stehen lassen. Ein paar Jahrzehnte lang erinnerten sich die Mönche noch daran, aber schließlich geriet so ein Kellergelaß in Vergessenheit. So war es auch mit der Krypta, die vor ein paar Jahren erst wiederentdeckt wurde.“
„Glaubt ihr denn wirklich, daß wir immer noch unter dem Mont Saint-Michel sind?“ fragte Jean. „Wir sind die ganze Zeit über fast geradeaus gegangen. Wir müßten eigentlich schon beinahe bei Pontorson angekommen sein.“
Weder Pierre noch Raymond antworteten auf diese Frage, aber sie gab ihnen zu
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