Der verwaiste Thron 02 - Verrat
unser Geschrei den Nachtschatten wecken würde. Lass dich nicht von seinem Aussehen täuschen. Er ist ein Tier, und er würde uns zerreißen wie ein Tier.«
»Ich weiß nicht.« Nungo'was kam näher heran, die Kerze in der Hand. Er stellte sie auf einen Vorsprung. Sein Blick glitt über den Schal in Anas Hand. Er zögerte. »Bist du sicher, dass …«
Der Nachtschatten stöhnte. Essiggestank, so stark, dass er Ana die Tränen in die Augen trieb, stieg aus der Nische auf. Aus dem Stöhnen wurde ein tiefes, dumpfes Knurren. Nungo'was wich zurück.
»Tu es!«, schrie Ana.
»Ich tue es.« Jemand war auf einmal neben ihr, eine Hand entriss ihr den Schal. Im Kerzenschein sah sie Martas verzerrtes, bleiches Gesicht. »Ich tue es, Fürstin!«
Sie stieß Nungo'was zur Seite und ging neben der Gestalt am Boden auf die Knie. Mit einer Geschwindigkeit, die Ana ihr nicht zugetraut hatte, wickelte sie ihr den Schal um den Hals und begann an den Enden zu ziehen. Der Körper unter ihr regte sich, zog die Beine an, die Arme zuckten.
»Halt ihn fest!«
Nungo'was griff nach den Knöcheln des Nachtschatten. Ein Tritt, eher Zufall als Absicht, warf ihn zurück. Er schrie auf.
Hinter Ana begann Merie zu weinen.
»Sieh nicht hin«, hörte sie Horouz sagen.
Seht nicht hin. Das hatte ihr Vater immer befohlen, wenn er Sklaven, die Gold aus der Mine gestohlen hatten, auf dem Burghof hatte erwürgen lassen. Sie und Gerit hatten es trotzdem getan.
Sie sprang über Nungo'was hinweg und ließ sich auf den Nachtschatten fallen, rammte ihm ihr Knie in den Rücken. Er stöhnte. Fingernägel kratzten über den Stein, dann Klauen. Er verwandelte sich. Hinter ihr warf sich Nungo'was über die Beine. Marta zog an den Schalenden wie an den Zügeln eines Pferdes, das sie zu bändigen versuchte. Das Haar hing ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Ihre Schneidezähne gruben sich tief in die Unterlippe. Blut lief über ihr Kinn.
Der Nachtschatten versuchte sich zu drehen. Das Gesicht war aufgedunsen, der Mund weit aufgerissen. Sein Atem rasselte und keuchte. Das eine Auge, das Ana sehen konnte, drehte sich in seiner Höhle, bis es sie ansah. Tränen und Blut schwammen darin.
»Hilf mir!«, stieß Marta hervor. »Nimm ein Ende!«
Ana griff danach. Es war schweißnass. Sie wickelte es sich um die Hand und zog mit aller Kraft.
Das Auge weitete sich, der rasselnde Atem wurde schwächer. Der Körper unter ihr begann zu zucken. Uringestank mischte sich in den von Essig und Alkohol. Die Zunge quoll aus dem Mund des Nachtschattens hervor.
Ana wandte sich ab und presste die Lippen aufeinander. Ihre Finger verkrampften sich, begannen zu schmerzen. Das Ende ihres Schals erschlaffte. Sie wollte daran ziehen, ihre Gedanken wollten ihre Hände dazu zwingen, aber nichts geschah. Nur ihre Arme zitterten. Die Muskeln waren hart und brannten. Der rasselnde Atem des Nachtschattens setzte wieder ein.
»Ist sie tot?«, schrie Hetie.
Ich kann es nicht , dachte Ana. Sie schämte sich vor ihrem Vater, vor ihrer Mutter, ihrem Bruder. Ich bin schwach.
»Zieh doch!« Martas Stimme überschlug sich. Nungo'was' Hand schob sich an Ana vorbei und ergriff das Ende des Schals; sein Arm drückte sie gleichzeitig zur Seite. Sie sah, wie sich die Muskeln darin bewegten, als er zu ziehen begann. Das Auge des Nachtschattens erstarrte. Sein Atem verstummte.
Ana glitt von seinem Rücken. Ihr Magen krampfte sich zusammen, dann übergab sie sich.
»Ist sie tot?«, fragte Hetie.
Im gleichen Moment knirschte es laut. Der Riegel der Tür wurde zurückgeschoben. Ana wurde von Fackelschein geblendet, der ihr so hell wie die Mittagssonne erschien. Sie hob die Hände vor die Augen. Zwischen ihren Fingern sah sie Silhouetten in die Zelle stürmen. Etwas schepperte. Eine helle Stimme schrie auf. Es war Hetie.
Durch die Tränen in ihren Augen blinzelte Ana in die Helligkeit. Sie sah drei der Banditinnen. Eine von ihnen hatte Marta gepackt, die andere trieb Nungo'was mit einem Speer zur Wand. Neben ihnen lag ein Tablett mit einem Laib Brot und einem Topf voll Schmalz am Boden. Ein zerbrochener Krug rollte vor und zurück. Es roch nach Bier.
Hetie stand im Türrahmen, die Hände zu Fäusten geballt und vor das Gesicht gehoben. Sie starrte Ana an und schluchzte.
Die zweite Banditin beugte sich über den Nachtschatten, drehte ihn um und wich zurück, als sie in sein halb verwandeltes Gesicht blickte.
Ana biss sich auf die Lippe. Der Weg zur Tür war frei. Niemand achtete auf sie.
Es waren
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