Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Valerie.
»Das glaube ich kaum. So stark war der Schlag nicht.«
»Er kann erfrieren, wenn er da liegen bleibt.«
»Wenn es dich beruhigt, vergewissere ich mich später. Geben wir ihm etwas Zeit.«
»Du holst dir eine Erkältung.«
Sie kamen im dritten Stock an. Johan sah an sich herab und knöpfte sein Pyjamaoberteil zu. Er lachte. »Es ist wohl zu spät, darüber nachzudenken.«
Sheila war bei Lili, wie sie auf einem Zettel hinterlassen hatte. Valerie machte Tee. Sie suchte nach einer passenden Erklärung für Gunters Auftauchen. Er sei eine Kneipenbekanntschaft, die sich nicht hatte abwimmeln lassen und ihr bis nach Hause gefolgt sei. Am Wochenende spielten die Leute verrückt.
Johan trank aus der Tasse, die schon der Kommissar benutzt hatte. Valerie holte eine Decke und bedauerte, ihm keine Schuhe anbieten zu können, ihre eigenen waren zu klein. Er wärmte seine Füße an einem Heizkörper. Keiner von beiden kam auf den Gedanken, die Polizei zu rufen.
Als Valerie ihn versorgt wusste, ging sie ins Bad. Gunter hatte ihr ein Büschel Haare ausgerissen. Sie löste ihren Pferdeschwanz und verdeckte die kahle Stelle. Erschöpft setzte sie sich auf den Rand der Badewanne und atmete tief ein. Dann übergab sie sich in die Toilette.
Gunter vermutete, dass sie Ray und Ronny umgebracht hatte. Dass sie alle Mitwisser beseitigen wollte, wie er sich ausgedrückt hatte. Das hieß, er wusste Genaueres über Jefs Tod. Oder ahnte es. Genau wie Sheila. Mit dem Unterschied, dass Gunter befürchtete, der Nächste zu sein.
Was sollte sie tun? Dr. Joos anrufen? Was würde der Anwalt ausrichten können? Johan war ihr einziger Verbündeter. Wenn er nicht dazwischengegangen wäre, läge sie jetzt zwischen den Altglascontainern. Dankbarkeit erfüllte sie, größer als alle Gefühle, die sie bisher gekannt hatte. Dieser Mann, Johan. Er war da, wenn sie ihn brauchte. Er zögerte nicht zu handeln. Anscheinend wohnte er gleich gegenüber, hatte ein Auge auf sie. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, ihr Gewissen zu erleichtern. Johan alles zu erzählen, von Anfang an. Sie wollte sich ihm anvertrauen. Er würde bestimmt auch eine Lösung finden, es Sheila beizubringen. Er zeigte so viel Verständnis, drang nicht in sie. Sicher, er war schwierig, kämpfte mit seinen eigenen Dämonen, aber wer tat das nicht? Das Kino, die Sauna und jetzt ihre Rettung – Sprossen auf einer Leiter. Die Bedrohung durch Gunter und die Erleichterung nach Johans Eingreifen schienen alles zu beschleunigen. Valerie sehnte sich nach Nähe.
Sie zog ihr Sweatshirt aus. Darunter trug sie ein Trägerhemd. Sie dehnte den Ausschnitt, bis eine Faser riss und der Bund ausgeleiert herunterhing. Ihre Jogginghose sah furchtbar aus. Rasch entledigte sie sich ihrer Kleidung. Sie putzte sich die Zähne und erneuerte ihr Make-up. Dann begutachtete sie sich vor dem Spiegel. Die Bräune ihres Körpers besserte ihre Stimmung. Sie hatte ein paar Schrammen, aber das war nicht zu ändern. Schließlich schlüpfte sie in ihren Bademantel und sprühte Parfum auf ihren Brustansatz, nur ein bisschen, damit es nicht aufdringlich wirkte. Heute war die Nacht der Nächte, dachte sie.
Valerie fand ihn im Schlafzimmer. Er stand am Fenster und schaute mit verschränkten Armen hinaus.
Das Doppelbett kam ihr wie eine einzige Anklage vor. »Das ist noch von meinem verstorbenen Mann«, sagte sie zur Entschuldigung und schloss die Tür.
Er zog die Vorhänge zu und drehte sich um. »Es ist schwer, die Vergangenheit zu vergessen.«
Besonders in diesem Bett, dachte sie, überrascht von Johans Offenheit. Sie zerrte die Decke herunter und drapierte sie auf dem Teppichboden, ganz automatisch, ohne sich der Eindeutigkeit ihrer Verrichtungen bewusst zu sein.
Als sich Valerie aufrichtete, nahm Johan sie in den Arm. Er küsste sie. Dann streifte er ihren Bademantel ab und trat zurück.
Valeries Haut vor seiner ausgestreckten Hand. Wie sie sich hob und senkte bei jedem Atemzug. Es war ihm, als beobachtete er sich selbst zum ersten Mal aus der Ferne, als säße der alte Johan hinter dem Teleskop und betrachtete einen anderen. Den Johan, der einen bösen Menschen unschädlich gemacht hatte. Der sich anschickte, diese Frau, die ihn begehrte, wie einen Schatz in Besitz zu nehmen.
Valerie las kindliche Lust in seinen Augen. Johan gab ihr das Gefühl, ein Geschenk zu sein. Er sollte es bekommen, dachte sie und verwarf den Gedanken, sich ihm jetzt in diesem Augenblick zu offenbaren. Seine freudige
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