Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
erkennen Sie Ihre Wohnungstür nicht wieder.«
7. Dezember
Für Gedächtnistraining im Freien war es entschieden zu kalt. Das Thermometer zeigte minus drei Grad. Der Frost verwandelte den gefallenen Schnee in tückische Eisplatten. Überall in der Stadt waren Streufahrzeuge unterwegs. Einige Seminarteilnehmer hatten den Kurs wegen der schlechten Witterungsverhältnisse abgesagt.
Raupach war zu Fuß gekommen. Frisch und ausgeruht nahm er in dem Übungsraum Platz. Nach den Ereignissen der vergangenen Woche verspürte er große Lust, es mit den vertrackten Aufgaben aufzunehmen. Die richtigen Verknüpfungen herstellen, ohne sich von Nebensächlichkeiten ablenken zu lassen. Das Ziel im Auge behalten, ruhig bleiben, wenn die Uhr heruntertickte. Eine Möglichkeit nach der anderen ausschließen, damit ihm die Aufgabe nicht unter den Fingern zerrann.
Der Himmel war verhangen, ein Videobeamer stellte in dem Übungsraum die einzige Lichtquelle dar. Sie begannen mit kreisförmig angeordneten Buchstaben. Sechs bis zehn Buchstaben ergaben Wörter, die entweder im Uhrzeigersinn oder gegen ihn zu lesen waren. Um die Übung zu erschweren, fehlten ein oder zwei Buchstaben eines Wortes. Sie waren mit Fragezeichen markiert. Die Schwierigkeit bestand darin, den Anfang des Wortes zu finden. Wenn man den einmal hatte, konnte man die Buchstaben leicht ergänzen und die Lösung ergab sich fast von selbst.
»Buchdruck!«, rief Katharina. Ihre Frisur war genauso aufwändig wie vor einer Woche.
»Richtig«, sagte der Dozent und erklärte, warum die erste Aufgabe relativ einfach war. C und H sowie C und K gaben die Richtung an, in der das Wort zu lesen war. Es waren Indikatoren einer verborgenen Ordnung, die das Gehirn herzustellen versuchte.
Indizien, ergänzte Raupach im Stillen. Die Seminarteilnehmer trugen die Lösung in ihre Arbeitsblätter ein.
»Der Wortanfang war leicht zu finden«, fuhr der Dozent fort und deutete mit einem Zeigestab auf ein B und ein K, die in dem Buchstabenring nebeneinander lagen. »Achtet auf solche Unstimmigkeiten. Die Konsonanten B und K – oder K und B – stehen in einem Wort selten nebeneinander.«
Katharina probierte die Buchstabenkombination aus, indem sie vor sich hin murmelte und ihre Augenbraue massierte, wie sie es meistens tat, wenn sie scharf nachdachte. Sie schüttelte den Kopf.
»Farb-kasten«, sagte Raupach. »Hack-brett.«
Der Dozent schaute ihn verblüfft an. »Sehr gut … Klemens. Bei Zusammensetzungen von Wörtern ist Vorsicht geboten. Aber dazu kommen wir später.«
Bei dem nächsten Wort fehlte der Anfangsbuchstabe, das G in Gesicht. Diesmal war Hergen am schnellsten, ein Werbegrafiker mit jugendlichem Ehrgeiz und Spaß am Rätselraten. Der Dozent machte einige Ausführungen zum bildhaft-verknüpfenden Denken, das durch diese Übung geschult wurde. Bei regelmäßigem Training konnten neue neuronale Verbindungen im Gehirn entstehen.
Raupach mühte sich nach Kräften, schaffte es aber kein einziges Mal, Erster zu sein. Bei der anschließenden Einzelübung schnitt er besser ab. Er schöpfte die Zeitvorgabe voll aus und löste neun von zehn Buchstabenrätseln. Nur Hergen hatte sämtliche Aufgaben gelöst. Der Dozent entließ die Teilnehmer in die Pause. Kaffee trinkend standen sie in Grüppchen um einen großen quadratischen Tisch herum.
»Memory-Tests sind mir lieber«, sagte Franz, der Veteran des Seminars. Er unterrichtete an derselben Schule wie Katharina und hatte schon alle möglichen Fortbildungskurse hinter sich. »Mit diesen Buchstabenspielchen kann ich nichts anfangen.«
»Also, vor einer Woche fand ich’s ziemlich langweilig. Sich Gegenstände merken und sie in der richtigen Reihenfolge wiedergeben, wo liegt da der Reiz?« Hergen war Ende zwanzig. Er hatte noch keine Probleme mit seinem Erinnerungsvermögen und fasste das Gedächtnistraining als willkommene Abwechslung vom Alltag auf. Routine war Gift in seiner Branche. Hergens Chef war der gleichen Ansicht.
»Hör nicht auf Franz«, pflichtete ihm Katharina bei. »Er tut sich schwer, etwas dazuzulernen.«
Franz protestierte, aber es wirkte nicht überzeugend. Das Gedächtnistraining legte seine geistige Unbeweglichkeit erbarmungslos offen. Er musste sich anstrengen, damit er im Vergleich mit den anderen nicht völlig ins Hintertreffen geriet.
»Für Lehrer stelle ich mir es momentan nicht einfach vor«, sagte Hergen. »Ihr werdet für die Bildungsmisere verantwortlich gemacht.«
»An den Pranger gestellt«,
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