Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Malregel.
Raupach entschied sich für einen abgestorbenen Baum. Den Wuchs der Äste konnte er inzwischen gut nachempfinden. Er fing unten an. Sein Baum hatte starke Wurzeln. Der Stamm gabelte sich knapp über dem Boden. Ein Teil strebte kerzengerade empor, das rahmte die Szene zusätzlich ein. Der andere Ast neigte sich über den See und lief in dürren Zweigen aus. Raupach benutzte dafür einen feinen Pinsel. Er hatte seine Freude an dem vielfingrigen Geäst, all den filigranen, intuitiv hingeworfenen Strichen. Im Gegensatz zu dem Tannenwald im Hintergrund konnte er seinem abgestorbenen Baum einen eigenen Charakter verleihen. Es war ein seltsames Gefühl, etwas zu erschaffen, aus dem das Leben schon gewichen war.
Der Baum beherrschte jetzt das Bild. Er verdeckte den See und gab zugleich den Blick auf ihn frei. Perfekt, dachte Raupach und versah die Äste mit einer Schneeschicht. Doch sein übertriebener Realitätssinn erwies sich als Fehler. Raupach hatte zu viel Weiß erwischt. Der Baum verschwand darunter wie unter einer erdrückenden Last. Er kratzte die Farbe weg, aber dabei entfernte er auch das Dunkelbraun der Äste. Am Ende war nichts mehr von dem Baum übrig. Dies allein war nicht so schlimm, Raupach malte einfach einen neuen abgestorbenen Baum. Doch der See, vor dem der Baum stand, war nicht so leicht auszubessern. Der durchscheinende Schimmer der Eisdecke ging verloren, sie wurde eine strukturlose platte Fläche. Korrekturversuche waren deutlich zu sehen.
Entnervt ließ Raupach den Pinsel sinken. Er verzichtete auf eine Signatur, stellte das Bild auf den Boden und öffnete das Fenster.
Draußen sah es genauso winterlich aus wie in seiner Phantasie. Er konnte sich an keinen Dezember in Köln erinnern, in dem es so kalt gewesen war. Die Bäume in der Gneisenaustraße waren dick mit Schnee bedeckt, ein Überzug aus weißer Angorawolle. Wie sollte er einen solchen Effekt je hinbekommen?
Ihm fiel ein, dass er noch eine alte Leinwand besaß, die zu einem noch älteren Diaprojektor gehörte, ein Erbstück von seinem Vater. Den Projektor hütete er wie seinen Augapfel, aber mit der Leinwand verband er keine Erinnerungen. Sie lag auf seinem Schlafzimmerschrank, zusammengerollt wie eine Landkarte. Er schnitt ein Stück davon ab, legte es auf den Küchentisch und beschwerte die Ecken mit Fischkonserven aus seinem Vorrat. Dann fing er ein neues Bild an. Diesmal ließ er den Schnee weg.
Valerie gab Acht, auf dem Pflaster nicht auszurutschen. Sie war noch ganz wackelig auf den Beinen. Erst die Nachricht von Rays und Ronnys Tod und dann noch die Fragen dieses übertrieben höflichen Kommissars. Sie hatte die Nerven verloren. Und Sheila hatte die Situation auf besonnene Art gerettet.
Das Mädchen versetzte sie immer wieder in Erstaunen. Offenbar wollte sie mehr von Jef bewahren, als Valerie lieb war. Dass sie diese CD noch besaß, sprach Bände. Sie war in ihr Zimmer gegangen, um Musik zu hören. Wie sollte Valerie damit umgehen? Irgendwann würde sie Sheila beichten müssen, wie Jef gestorben war, mit allen scheußlichen Einzelheiten.
Die Kneipe war wie immer zum Bersten voll. Die Scheiben waren beschlagen, Zigarettenrauch und die Wärme der Körper hüllten Valerie ein und gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit, wie sie es zuletzt mit Johan in der Sauna verspürt hatte. Das war auch ein kleiner Raum gewesen, ein abgeschlossenes Gehäuse, aus dem kein Wort herausdrang.
Sie schob sich zum Tresen durch. Der Wirt stellte ihr ein Kölsch hin. Er wechselte ein paar Worte mit ihr und wandte sich dann wieder anderen Gästen zu. Valerie wollte nicht lange bleiben, aber sie kannte eine Menge Leute in dem Lokal. Also erzählte sie von ihrem neuen Job in dem Sonnenstudio. Sie wurde milde belächelt, obwohl die meisten dieser gescheiterten Existenzen nicht den geringsten Anlass dazu hatten. Sie fragte sich, wer hier sein Bier von Arbeitslosengeld bezahlte. Die Kneipe wimmelte von unbeschäftigten Machern. Eine große Zeitung hatte ihre Landesredaktion vor kurzem aufgelöst und alle Journalisten auf die Straße gesetzt. Die in Köln ansässigen Sender und Produktionsgesellschaften fuhren einen strikten Sparkurs. Man setzte entweder auf Altbewährtes oder auf importierte Formate, Unterhaltungsshows, die dermaßen abgeschmackt waren, dass nur blutige Anfänger und die dienstältesten Opportunisten daran mitarbeiteten. Diejenigen aus dem Medienvolk, die durchs Raster gefallen waren, gaben vor, noch voll im Geschäft zu sein. Als
Weitere Kostenlose Bücher