Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
berichtigte Franz. »Plötzlich heißt es, wir können zu wenig. Dass es bei den Schülern schon an den Grundlagen fehlt …«
»Wir sind hier nicht auf der Lehrerkonferenz«, unterbrach ihn Katharina. Sie wollte am Wochenende nichts von dieser unseligen Debatte hören. Ihre Schüler setzten ihr schon fünf Tage in der Woche zu. Für sie war das Seminar eine Möglichkeit zu beweisen, dass sie im Dienst nicht abstumpfte und aufnahmefähig für Neues blieb. Dass sie dabei gut abschnitt, bereitete ihr sichtbares Vergnügen.
»Was ist mit dir?« Sie wandte sich an Raupach. Er hatte sich zu den dreien gestellt und mit Interesse zugehört. »Hast du heimlich geübt? Warum bist du plötzlich so gut?«
»Bin ich das?« Anscheinend verfolgte Katharina die Resultate der anderen.
»Das letzte Mal warst du nicht richtig bei der Sache, oder?«
»Es fällt uns allen schwer, von Lehren auf Lernen umzuschalten«, warf Franz ein.
»Du bist Polizist, nicht wahr?« Raupachs Berufsangabe hatte bei der Vorstellungsrunde vor einer Woche Überraschung und ein gewisses Unbehagen ausgelöst. Es war immer das Gleiche. Als hätten Polizisten keinen Anteil am realen Leben.
»Das Seminar hilft mir, etwas über mich selbst zu erfahren«, sagte Raupach.
»Auf was für einem Trip bist du denn?« Katharina lachte. »Ich dachte, du beobachtest uns die ganze Zeit über und suchst nach Verdächtigen.«
»Ich bin kein verdeckter Ermittler.«
»Schade. Hätte mich interessiert, was du von uns hältst.«
»Ich versuche, die Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu bewerten.«
»Diplomatische Antwort«, gab sie zurück. »Dann probiere ich es anders: Was machen wir hier?«
»Wir erforschen unsere geistigen Möglichkeiten«, sagte Raupach.
»Gezwungermaßen oder aus eigenem Antrieb?«
»Aus unterschiedlichen Motiven.«
»Was ist mein Motiv?«
»Selbstbestätigung.«
»Ach was«, entgegnete Katharina spöttisch.
»Das ist ein starkes Motiv. Außerdem ist das Seminar darauf ausgelegt. Daran ist nichts Verwerfliches.«
»Brauchen Sie Selbstbestätigung?«, schaltete sich Hergen ein und verfiel unbewusst ins Sie.
»Ja«, erwiderte er knapp. Raupach war sich bei der letzten Übung darüber klar geworden, dass er den Kurs nicht belegte, um Ordnung zu finden, sondern um besser mit der Unordnung zurechtzukommen. Das Streben nach Ordnung war für ihn ein Unterfangen, das nicht nur seinem Charakter, sondern auch seinen beruflichen Anforderungen entgegengesetzt war. Viele Ordnungsmuster dienten zwar als Grundlage seiner Arbeit, erwiesen sich jedoch im Laufe einer Ermittlung als trügerisch. Sich in der Unordnung nicht zu verlieren, in ihr richtig zu handeln und nicht überhastet – das war das Ziel, das er anstrebte.
»Ich habe von diesem Briefeschreiber gelesen«, sagte Katharina. »Der kurz vor Weihnachten irgendetwas abfackeln will. Traust du das einem von uns zu?«
»Ja. Jedem von euch.«
»Aber das ist doch ein Psychopath, ein Irrer.« Sie schnappte nach Luft. »Komm mir jetzt nicht damit, dass alle Menschen ein bisschen verrückt sind.«
»Mit ein bisschen verrückt liegst du richtig«, gab Raupach zurück. »Dieser Brief, der im Radio kam. Was ist daran irre?«
»Na, dass der Kerl unschuldige Menschen töten will.«
»Es ist eine Ankündigung mit einer gehörigen Portion Frust, verbrämt mit einem Schiller-Zitat. Nichts daran weist auf eine Denkstörung hin.«
»Solche Typen sind doch soziale Zombies. So einer würde nie an einem Seminar teilnehmen.«
»Auch für Autismus haben wir bislang keine Anzeichen gefunden«, sagte Raupach. »Der Verfasser dieser Drohung könnte die gleichen Aufgaben lösen wie wir, vielleicht sogar mit Bravour. Und er würde nicht einmal auffallen.«
Der Dozent rief die Kursteilnehmer zurück in den Übungsraum. Raupach stellte seine Kaffeetasse in eine Plastikwanne für gebrauchtes Geschirr. Franz und Hergen setzten sich in Bewegung.
Katharina rieb an ihrer Augenbraue. »Das heißt, ihr habt keine Ahnung, wer es ist.«
Raupach betrachtete sie eine Weile. Katharina war clever, daran bestand kein Zweifel. Er schüttelte den Kopf.
Sie ließ ihm den Vortritt. »Ich beneide dich nicht.«
Die Stühle und Tische waren bereits vor der Fensterfront des Übungsraums aufgereiht. Als nächste Aufgabe sollten sie einen der Bäume aus dem Garten zeichnen. Darin hatte Raupach inzwischen Übung. Fünf Bäume standen zur Wahl. Sie sollten sich alle gut einprägen. Er suchte sich einen verkrüppelten Birnbaum
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