Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
getan hätte, wäre er in der Lage gewesen, die paar Haltestellen bis zur Endstation durchzuhalten. Schließlich sollte die Bahn ihr Ziel sicher erreichen. Wenn Chris den Kaffee aber erst während der Fahrt oder an der Endstation zu sich genommen hatte, war er mit Sicherheit nicht mehr dazu gekommen, seine Tour fortzusetzen. So oder so: Die Fahrgäste waren nicht in Gefahr.
Sheilas Uhr zeigte zwanzig nach zwölf. Die sechste Schulstunde hatte angefangen. Sie verstand es, die Unterschrift ihrer Mutter auf dem Entschuldigungsschein zu fälschen, das hatte sie in der vergangenen Woche schon öfter getan. Am gestrigen Abend hatte sich Valerie beschwert, dass sie ihre Tochter gar nicht mehr zu Gesicht bekäme. Sheila hatte vorgeschoben, mit Lili für eine Klassenarbeit zu pauken, und keine weitere Erklärung abgegeben.
Sie näherten sich der Gabelung, von der aus die Endstation der Linie 5 zu sehen war. Sheilas Anspannung nahm zu. Es war anders als in der Nacht vor dem Exzess. Nicht so geheimnisvoll und dramatisch, sondern irgendwie unspektakulär, ein Kontrollgang.
Die Ampel sprang auf Rot-Gelb.
»Es wird grün«, sagte Luzius.
»Mist! Kannst du nicht rechts ranfahren?«
»Auf keinen Fall! Wir dürfen nicht anhalten.«
Der Passat überquerte die Kreuzung. Sheila hatte nur ein paar Sekunden, um die Situation zu erfassen. Die vielen Polizisten überraschten sie, da sie nur mit einem oder zwei Wagen gerechnet hatte. Dann sah sie das ausgebrannte Wrack. Ein schwarzes Skelett, verbogen, entstellt und so einprägsam wie ein Szenenbild aus einem Katastrophenfilm. Es qualmte noch. Hinter der Absperrung ein Menschenauflauf, mehrere Kamerateams, Fotojournalisten auf Leitern.
Eine Gummiumhüllung wurde auf einer Trage in einen Rettungswagen gebracht, zum Abtransport. Sie besaß die Abmessungen eines menschlichen Körpers.
Luzius hatte Mühe, den Wagen auf der Straße zu halten.
»Du bist jetzt der Boss hier unten«, sagte Raupach.
Photini lächelte gequält. »Das hab ich mir nicht gewünscht.«
»Eine Beförderung kann man auf die Dauer nicht verweigern. Es hilft nichts, sich dagegen zu wehren.«
»Gegen eine Kündigung könnte ich wenigstens etwas unternehmen. Aber so …«
»Irgendwann heben sie dich doch auf den Schild, ob du willst oder nicht.«
»Ein wackliger Schild. Da fällt man leicht runter.«
Auf seinem Schreibtisch stand ein Umzugskarton. Raupach überlegte, was er zuerst einpacken sollte. Ein geordneter Rückzug würde eine Niederlage erträglicher machen. Dann war es einfacher, seine Truppen zu sammeln und neu aufzustellen. Feldherren dachten so und all jene Menschen, die ihre Arbeit als Kampf gegen einen imaginären – oder ganz konkreten – Widersacher auffassten. Aber Raupach war kein Soldat. Er war ein Ermittler und würde es trotz seiner Suspendierung bleiben.
Schließlich warf er einige Büroutensilien und die wenigen persönlichen Gegenstände, die sich an seinem Arbeitsplatz angesammelt hatten, wahllos in den Karton. Obenauf breitete er den Kalender, den Photini ihm geschenkt hatte. Den Stein vom Rheinufer nahm er nicht mit. Er legte ihn auf Photinis Schreibtisch. Dann setzte er sich an seine Tastatur.
»Den Computer brauchst du gar nicht hochzufahren. Dein Zugang wurde gesperrt.« Photini nahm den Kiesel und drehte ihn hin und her. Er war wärmer, als sie angenommen hatte. »Vorderbrügges Assistentin war hier und hat alle Kopien der Briefe mitgenommen.« Sie kicherte wie ein junges Mädchen. »Zumindest die, die sie gefunden hat.«
Raupach erhob sich und stellte den Karton neben die Tür. Er zog das rechte Bein wieder nach, eine alte, längst ausgeheilte Verletzung, über deren Ursache er sich stets in Schweigen hüllte.
»Du kannst meinen Rechner benutzen.«
Er winkte ab. »Ich möchte nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst.«
»Willst du die Suspendierung anfechten?«, fragte sie. »Du könntest die Polizeigewerkschaft einschalten.«
»Das dauert zu lange. Bis dahin ist Weihnachten längst vorbei.«
»Dein Job steht auf dem Spiel. Sie können dir nichts nachweisen.«
»Dieser Job ist nur ein Teilgebiet meines Berufs. Das Archiv ist ein Nebenschauplatz, kein Ort, an dem sich ein Fall entscheidet.«
»Aber hier unten gibt es jede Menge Spuren, Raupach, das hast du doch immer gesagt.«
»Spuren sind keine Antworten. Man muss die richtigen Fragen stellen, um Antworten zu bekommen. Dafür muss man nach draußen gehen und mit den Leuten reden.« Er betrachtete die graue
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