Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Darüber hatte er noch nie nachgedacht.
Es sah verheerend aus. Raupach hätte sich nicht träumen lassen, wie ein Brand eine Bahn zurichten konnte. Das Feuer hatte die Endstation der Linie 5 in ein Schlachtfeld verwandelt. Ein schwarzes Loch klaffte in der winterlichen Landschaft, herausmodelliert von gestochen klarem Sonnenlicht. Die Bebauung der inzwischen gesperrten Rochusstraße begann in einer sicheren Entfernung von etwa hundert Metern. Hinter einer Reihe von Wohnhäusern sah man die Justizvollzugsanstalt. Sie nahm einen ganzen Straßenzug ein, gesichtslos und blind. Im Sommer befand sich rings um die Haltestelle eine Grünfläche. Dort würde lange nichts mehr wachsen.
Raupach betrachtete einen zusammengeschmolzenen Klumpen, der entfernt an eines der Drehgelenke der hydraulischen Türen erinnerte. »So viel Hitze, trotz der Kälte«, sagte er fassungslos.
»Gerade wegen der Kälte«, antwortete Brandmeister Foth. Er trug seinen Helm und wartete neben Raupach und Heide, während Woytas im Gerippe des Triebwagen herumstocherte. Der Erste KHK kratzte nachdenklich an dem erstarrten Löschschaum, bis ihm die Spurensicherung Einhalt gebot.
»Die Trockenheit«, erklärte Foth. »Das Feuer findet in der Luft keinen Widerstand.« Einer der Chemiker warf ihm einen spöttischen Blick zu.
Die beiden angehängten Wagen machten von außen einen nahezu unversehrten Eindruck. Doch die Schalensitze und Kunststoffholme waren verzogen und angeschmort. Es hatte nur ein wenig Hitzeentwicklung gefehlt, und die Flammen wären auf die Metallteile übergegangen. Ein Mensch hatte in diesem Inferno bei geschlossenen Türen keine Chance. Er verbrannte bei lebendigem Leib.
Die sterblichen Überreste von Christian Tiedke lagen abgedeckt auf einer Plastikplane.
»Aus irgendeinem Grund hat er die Türen nicht geöffnet, um zu entkommen«, sagte Raupach.
»Oder er konnte sie nicht öffnen, weil ihn etwas davon abhielt«, gab Heide zu bedenken. »Oder jemand.«
»Eine technische Ursache?«, mutmaßte Raupach. »Vielleicht hatte die Heizung einen Defekt?«
»Ausgeschlossen«, sagte Foth.
»Selbstmord scheidet ebenfalls aus?«
»Auf jeden Fall. Tiedke hatte Angst, dass es auch ihn erwischte.« Heide wies auf den ausgebrannten Waggon. »Aber wahrscheinlich fühlte er sich in seiner Fahrerkabine sicher.«
»Gestern der Brand in dem Kino. Heute das. Was steht uns bis Weihnachten bevor?«
»Daran will ich lieber nicht denken.«
Es war kurz nach zwölf Uhr mittags. Auch Woytas schien nicht damit gerechnet zu haben, dass Tiedke an seinem Arbeitsplatz am hellichten Tag Gefahr drohte. Er hatte ihn während dieser Zeit nicht einmal überwachen lassen. Seine Gruppe begann, die ersten Zeugen aus der Umgebung zu vernehmen, Leute, die von der Endstation direkt nach Hause gegangen waren und während der Fahrt nur gesehen hatten, dass der Fahrer wie immer hinter seinem Steuerpult gesessen hatte, neben sich einen Kaffeebecher aus Styropor in einer Halterung an den Armaturen. Niemandem war etwas aufgefallen, kein ungewöhnlicher Fahrgast auf den letzten Stationen. Dieser Teil von Ossendorf war ein bürgerliches Wohnviertel, man kannte sich. Normalerweise machte die Linie 5 einen Halt von zwanzig Minuten, bevor sie Richtung Reichenspergerplatz zurückfuhr. Zwei Männer vom Reinigungspersonal der KVB kontrollierten die Wagen. Sie gaben zu, nur kurz nach auffälligem Müll gesehen zu haben. Weil ihnen nichts aufgefallen war, hatten sie sich auf ihren Fahrrädern zum nächsten Café aufgemacht. Um die Mittagszeit wollten nur wenige Leute von der Endstation in die Innenstadt fahren. Als sich eine ältere Dame kurz vor der planmäßigen Abfahrt der U-Bahn näherte, brannte der Wagen bereits lichterloh.
Es gab auch nirgendwo eine Schiller-Nachricht. Eine SOS-Kapsel wie im Apollo-Kino hätte der Hitze nicht standgehalten, schließlich war auch die Videokamera, die in einem Kasten über der Fahrerkabine angebracht gewesen war, völlig zerstört. Vielleicht war ein weiterer Auszug der Glocke verbrannt.
Raupach legte keinen Wert auf den nächsten Triumph dieses Verrückten, der zuschlug, wo es ihm gerade gefiel. Es bestand kein Zweifel, dass er sich in Köln bestens auskannte. Die Orte, an denen er in Erscheinung trat – und an denen er seine Botschaften hinterließ –, lagen jedoch allesamt auf der linken Rheinseite und dort eher in den nördlichen Bezirken der Stadt.
Woytas wimmelte einige Journalisten ab und ließ die Absperrung erweitern. Er war
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