Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
sie die Videos von Hand auf. Nach einigen Wochen hat sie etwas anderes benutzt.« Jakub hielt eine Schultertasche aus Schweinsleder hoch und wies auf ein Loch an der Seite. »Dadurch zog sie keine Aufmerksamkeit auf sich. Die Aufnahmen wurden authentischer. Allerdings auch reduzierter.«
Die nächste Einspielung zeigte Rücken, Ellenbogen, Gesäße in einer U-Bahn. Die Kamera schien auf keinen Einzelnen gerichtet zu sein, sondern immer den Ausschnitt einer ganzen Szene zu erfassen. Die Perspektive war die eines Kindes, da sich die Schultertasche meistens auf der Hüfthöhe von Marta Tobisch befand. Dann folgten Gesichter von sitzenden Fahrgästen, lange Einstellungen, in denen sich ganze Lebensgeschichten abzeichneten. Es gab Umschnitte wie bei einem richtigen Film. Anscheinend hatte Marta Tobisch nicht einfach draufgehalten, sondern die Aufnahme immer wieder unterbrochen und neu angesetzt. Das Resultat wirkte alles andere als amateurhaft. Es war eine fließende Erzählung von Passagen unter der Erde.
»Der Offenbarung mächtiger Schoß«, fügte Jakub hinzu. Er hatte in alten Gedichtsammlungen geblättert. »Die Bilder folgen einem Rhythmus. Dafür hat sie einfach den Stop-und-Play-Schalter benutzt.«
»Wie die Tasten eines Instruments«, fügte Photini hinzu. Das Video zeigte eine alte Frau mit einer verbeulten Pelzmütze.
»So geht das immer weiter.« Jakub wandte sich der Runde zu. »Es sind vor allem Köpfe. Wenn Sie öfter mit der Kölner U-Bahn fahren, könnten auch Sie auf diesen Bändern zu sehen sein.«
Die lockere Stimmung, die in der Sonderkommission anfangs geherrscht hatte, wich einer stillen Faszination. Raupach bewunderte die Videos. Auf den Bildern von Silke Scholl war ihm Geologie vor Augen geführt worden. Das hatte ihm eine gewisse Ehrfurcht vor erdgeschichtlichen Zeitläufen eingeflößt und ihm zu verstehen gegeben, wie lächerlich kurz und unbedeutend sein Leben war. Marta Tobischs Aufnahmen zielten auf das genaue Gegenteil. Sie zeigten unendlich viele dieser lächerlich kurzen Leben. So verkürzt diese Leben durch die zahllosen Einstellungen erschienen, so bedeutsam und künstlich verlängert wirkten sie durch die Einzelaufnahmen. Zusammengenommen ergaben sie ein Menschengemisch. Zu dem sie alle gehörten.
»Sie war eine Künstlerin«, sagte Raupach und sprach damit aus, was alle dachten.
»Das stimmt.« Jakub ließ das Video weiter laufen. »Aber Marta Tobisch war krank. Sie litt am Borderline-Syndrom.«
»Was ist das?«, wollte Effie wissen.
»Ein Grenzbereich zwischen Psychose, Neurose und Persönlichkeitsstörung.«
»Von allem etwas«, seufzte Heide.
»Die Krankheit ist vielschichtig. Borderline-Patienten schwanken ständig zwischen gut und böse.«
»Im moralischen Sinn?«, fragte Raupach.
»Ja. Sie erleben sich selbst und ihre Umwelt in Schwarzweiß. Sie pressen alles in ein Raster. Und kommen zu keiner Lösung.«
»Das erinnert mich an den letzten Wahlkampf«, sagte Heide.
»Kein Grund, politisch zu werden«, sagte Jakub. »Marta Tobisch hat sich übrigens kein einziges Mal selbst gefilmt. Das muss nichts heißen, ist aber dennoch bezeichnend. Borderline-Patienten neigen zu einer seltsamen Mischung aus Verklärung und Abwertung ein und derselben Person. Sie fühlen sich abgeschnitten. Wahrscheinlich stellen diese Aufnahmen das Vehikel dar, mit dem sie sich einen Zugang zur Welt verschaffte.«
»Wir haben eine Krankenakte aus Breslau aufgetrieben«, warf Photini ein. »In Deutschland wurde Frau Tobisch nicht behandelt, nachdem ihre Eltern in den Westen ausgewandert waren. Mit fünfzehn hat man sie in Polen als unheilbar eingestuft. Damals schrieb sie sich übrigens noch ›Tobisz‹, die Eltern ließen den Namen ändern.«
»Das war 1991«, setzte Jakub hinzu. »Die Kollegen in Breslau haben eigentlich einen guten Ruf. Aber Borderline war in Osteuropa kaum erforscht.«
»Wie geht es weiter?«, fragte Heide und wies auf den Bildschirm. »Und was können wir dadurch über Johan Land erfahren?«
»Ich bin noch dabei, sein Psychogramm zu erstellen.« Jakub legte die Hand auf einen dicken Stapel Papier. »Warten Sie noch eine Minute, dann lege ich Ihnen die Kurzfassung dar. Wir haben in den letzten Tagen die Hausbewohner, Lands Nachbarn, seine Arbeitskollegen und eine entfernte Verwandte in Dormagen vernommen. Seine Eltern leben nicht mehr. Sie sind bei einem Autounfall im Spätsommer 1999 umgekommen, eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Nachdem er Marta Tobisch im
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