Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Herbst 1999 geheiratet hat, beschränkte sich sein Kontakt nach außen auf das Nötigste.«
»Half er seiner Frau bei ihrem Kunstprojekt?«, fragte Effie Bongartz.
»Davon können wir ausgehen.« Jakub entnahm die Kassette und schob eine andere in das Gerät. Es war die letzte, die er bereitgelegt hatte. Er zögerte. Es fiel ihm schwer, die Fernbedienung zu betätigen. »Marta Tobisch hat noch während ihres Todes Videoaufnahmen gemacht. Wir haben das Band in Lands Schlafzimmerschrank gefunden.«
Zuerst waren Schienen und Gleisanlagen zu sehen. Um sie aufs Bild zu bekommen, hatte sich Marta Tobisch anscheinend nach vorne gebeugt und den Zoom benutzt. Es folgten eine Werbefläche der Deutschen Bahn und zahllose Beine, vermutlich gehörten sie zu wartenden Fahrgästen. Plötzlich wackelte das Bild, der Ärmel einer rot-weißen Trainingsjacke kam kurz in Sicht. Dann sah man die Decke der U-Bahn-Station, danach Schwärze.
Jakub spulte kurz zurück und zeigte die Aufnahme noch einmal in Zeitlupe. Während Marta Tobisch vor die einfahrende U-Bahn fiel, konnte man das Gesicht eines Mannes erkennen. Jakub schaltete auf Standbild.
Der Mann war Johan Land. Er stand etwa zehn Meter von der Kamera entfernt. Auf seinem Gesicht zeichnete sich kein Entsetzen ab, wie zu erwarten gewesen wäre. Es war Erleichterung. Er hatte einen Zettel in der Hand, offenbar einen Fahrschein. Er lächelte.
Jakub schloss die Türen des Medienschranks. Photini nutzte die Gelegenheit und schenkte Kaffee aus einer Thermoskanne nach. Es bereitete ihr Freude, die Gruppe zu bemuttern. Das passte nicht zu ihr, aber alle waren dankbar für die Unterbrechung. Paul Wesendonk betrat den Raum und wurde von Heide im Flüsterton eingeweiht. Höttges, der bislang stumm geblieben war, schob Effie Milch und Zucker hin.
»Johan Land befindet sich nicht in Behandlung«, fing Jakub wieder an. »Aber er bräuchte dringend eine.«
»Haben Sie eine Theorie?«, fragte Raupach.
»Eine Diagnose, sofern sie sich ohne persönlichen Kontakt zum Patienten stellen lässt. Ich schicke voran, dass es vor einem Jahr in Johan Lands Buchhandlung brannte. Das hat Fofó in Erfahrung gebracht. Land konnte in letzter Sekunde gerettet werden. Offenbar war er in suizidaler Absicht in dem brennenden Gebäude geblieben.«
»Er wollte sich umbringen, indem er sich nicht in Sicherheit brachte?«, fragte Effie Bongartz.
»Der Eindruck drängt sich auf. Seit diesem Ereignis hat Land eine große Narbe auf dem Unterarm. Er versteckt sie. Eine seiner Kolleginnen sagte aus, dass die Narbe einen Schriftzug darstellt: Marta. Er hat sich die Buchstaben in die Haut geritzt.«
»Da haben wir unsere Erklärung für die Brände«, sagte Effie.
»Nicht so voreilig.« Raupach hob die Hand. »Machen Sie weiter, Jakub.«
»Bitte halten Sie mich nicht für einen Quacksalber«, wehrte Jakub ab, »Was ich jetzt sage, klingt reichlich unglaubwürdig.«
»Nur zu!«
»Auch Johan Land litt an einer Krankheit. Sie heißt Folie à deux.«
»Wahnsinn zu zweit?«, fragte Heide und freute sich, auch einmal Fremdsprachenkenntnisse beitragen zu können.
»Es handelt sich um eine so genannte Gemeinsame Psychotische Störung. Überaus selten, da schwer festzustellen.« Jakub machte eine Pause und warf einen Blick in seine Unterlagen. »Das ist, nach der korrekten Definition, die psychotische Ansteckung einer geistesgesunden, in der Regel aber seelisch labilen Person durch einen Psychose-Erkrankten. Betroffen sind meist Verwandte oder Lebenspartner in einem isolierten Umfeld. Im Laufe der Zeit teilen sie denselben Wahn oder das gleiche Wahnsystem. Sie können sich in ihren Überzeugungen sogar gegenseitig bestärken. Dabei gibt es auffällige Unterschiede …«
»Nicht so schnell«, unterbrach Raupach. »Heißt das, ein psychisch gesunder Mensch steckt sich bei einem Verrückten an?«
»Ja. Und wie bei jeder Infektion gibt es auf der einen Seite eine induzierende Person, den Primärfall, und andererseits die induzierte Person, also den passiven Partner, der das Wahnsystem übernimmt.«
»Marta Tobisch ist dann … wer?«, fragte Effie.
»Das Mutterschiff«, erwiderte Photini. »Sie hat Johan Land angesteckt.«
»Borderline ist ein Sammelbecken für eine ganze Reihe psychotischer Störungen«, führte Jakub aus. »Bei Marta Tobisch kommt noch hinzu, dass sie aus Polen stammte und kaum Deutsch sprach, als sie mit ihren Eltern nach Köln zog. Das verstärkte ihre Isolation.«
»Deshalb die Videoaufnahmen.
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