Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
durch die Hintertür, kletterten über eine Mauer und gelangten zu den Toiletten eines italienischen Restaurants. Ein gekachelter Gang führte auf den Ring. Die Linie 15 kam gerade mit einem Bimmelton an. Sie überquerten die Straße und stiegen ein.
»Verdammt kalt«, sagte ein Mann, der im letzten Moment hinter ihnen in den Wagen gesprungen war. Er trug einen Button mit dem Schriftzug We are not afraid. Parallel zur kollektiven Angst vor dem Feuerteufel hatte sich Widerstand formiert. Einige Leute ließen sich nicht einschüchtern und dachten gar nicht daran, sich vor der Bedrohung zu verkriechen. Sie hatten eine Gegenbewegung gestartet. Schon aus Protest fuhren sie weiter mit der U-Bahn.
Dazu hatte es der Anschläge von London bedurft, dachte Johan. Eine große, weltumspannende Drohung verlieh seiner eigenen Gewicht. Es widerstrebte ihm, Terroristen zugerechnet zu werden, die aus Ermangelung eines persönlichen Motivs ihren verqueren, ins Extreme gesteigerten Glauben vorschoben. Er fühlte sich von Gott lieber verlassen als erdrückt.
Die Türen der 15 schlossen sich. Dann setzte sich die Bahn Richtung Nippes in Bewegung. Johan öffnete sein Notizbuch und studierte wieder den Terminplan, den er anhand seiner Beobachtungen für den Notfall angelegt hatte. Die Fenster waren beschlagen.
Sheila zog den Reißverschluss zu. Ihr Trolley enthielt alles, was sie brauchte. Wäsche, CDs und eine Hand voll Erinnerungen. Sie verließ die Wohnung, sperrte ab und wog den Hausschlüssel in der Hand. Würde sie jemals zurückkehren? Valeries Notruf hatte sie vor allem anderen an ihre eigene Aufgabe erinnert.
Sie zog den Griff des Trolleys heraus. Aber im Treppenhaus war er nutzlos. Die Geste wirkte lächerlich. Also lud sie den Koffer auf ihre Schulter und ging ohne das Geklacker der Rollen los.
Der Weg war nur kurz. Er maß genau zweiundzwanzig Stufen. Dann klingelte Sheila bei Luzius und eröffnete ihm, dass ihre Mutter abgehauen war. Ob sie bei ihm wohnen könne. »Ich habe nur dich«, fügte sie hinzu.
Luzius betrachtete das dreizehnjährige Mädchen, das ihm so viel abverlangte. Das so selbstständig und unnachgiebig schien, obwohl sie so viel durchlitten hatte. Sie war ihm auf eine Weise zugetan, die er nie für möglich gehalten hatte. Bedingungsloses Vertrauen im Tausch gegen Treue und Komplizenschaft. Luzius willigte ein.
Sheila trat ein und schloss die Tür. Sie erzählte von Gunter und der Befürchtung, dass er nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter bedrohte. Sie hoffte, dass Johan bei Valerie war und ihr half. »Gunter ist der Letzte in der Reihe. Der Letzte und der Gefährlichste. Der Urheber.«
Luzius dachte an seinen eigenen Erzeuger. Und an den Zustand seiner Mutter. Der Riss in seinem Herzen schloss sich, seine Bedenken schmolzen wie der Schnee im Profil der neuen Wanderstiefel, die er sich gekauft hatte, weil seine alten gestohlen worden waren. Sie standen auf einer Matte in seiner Wohnung.
Gemeinsam beugten sie sich über Sheilas Skizzen.
Raupach sagte seinen sonntäglichen Kurs ab und schlenderte ziellos durchs Messegelände und den Rheinpark. Auffällig viele Spaziergänger waren unterwegs. Es schien, als drängten die Leute in ein Stück eingehegte Natur, wo sie außer den Anfeindungen der Witterung keinen weiteren Bedrohungen ausgesetzt waren. Kurz vor der Zoobrücke trat Raupach auf eine Eisplatte, brach ein und holte sich nasse Füße. Mit den Wanderstiefeln, die er bei Johan Land gesehen hatte, wäre ihm das nicht passiert. Offenbar kam es wieder in Mode, mit festem Schuhwerk durchs Gelände zu stapfen. Im Treppenhaus von Valerie Braq waren ihm ähnliche Stiefel aufgefallen. Bei seinem ersten Besuch, wenn er sich richtig erinnerte.
Ein unfreiwilliges Geschenk. Jakubs Worte gingen ihm durch den Kopf wie ein Curlingstein, der übers Eis glitt und nirgendwo auf Widerstand stieß. Ein beweglicher Stein, wenn man so wollte. Neben dem Fernsehmaler waren die Curlingübertragungen auf einem Sportkanal Raupachs Lieblingssendung. Es war beruhigend, diesem Spiel zuzusehen und nach und nach die Regeln zu begreifen. Zwei Parteien versuchen ihre Steine möglichst nah an einem markierten Punkt zu platzieren. Durch das Schrubben mit Eisbesen konnte die Gleitstrecke minimal beeinflusst werden. Im Verhältnis zu dem Effekt wirkten die hektischen Besenbewegungen wie das Werk von Verrückten, die sich nicht abfinden wollten mit dem Lauf des Steins. Dieser war im Wesentlichen vorgezeichnet, sowie er die Hand
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