Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
sein.« Jakub hatte die Frage bereits durchgespielt. »Der Tod eines Menschen ist ein starker Stimulus. Vielleicht hat er Lands zwiespältige Verlustgefühle in Bezug auf Marta Tobisch freigesetzt. Machtlosigkeit gepaart mit einer Erleichterung, die er später als schuldhaft empfand – das könnte die Wunde aufgerissen haben.«
»Wir bestellen Valerie Braq ein«, schlug Heide vor. »Sie ist die Schnittstelle. Sie kennt auch Gunter Aalund, möglicherweise besser, als sie zugibt. Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Das Verfahren ist abgeschlossen«, gab Raupach zu bedenken. »Mit welcher Begründung wollen wir es wieder aufnehmen?«
»Neue Verdachtsmomente.«
»Als da wären? Wir müssen dem Staatsanwalt etwas Handfestes bieten.«
»Die Nachbarschaft zu Johan Land. Der Mordverdacht vor einem Jahr. Reicht das nicht?«
»Spekulationen«, sagte Raupach. Seine Skrupel regten sich. Unbescholtenen Menschen Ungemach bereiten unter dem Vorwand, ihre Umgebung vor Schlimmerem zu bewahren.
»Ihr habt die Frau bisher mit Samthandschuhen angefasst«, beharrte Heide. »Das können wir uns nicht mehr leisten.«
»Hört sich an, als färbten Pauls Ansichten auf dich ab«, sagte Photini. »Harte Gangart, im Zweifel gegen den Angeklagten?«
»Eine interne Auseinandersetzung können wir momentan überhaupt nicht gebrauchen«, schritt Raupach ein. »Sonst wäre Johan Lands Schachzug in der Sonntagszeitung wirkungsvoller, als er sich träumen lässt.«
»Darf ich noch etwas sagen?« Jakub warf seine Zigarettenschachtel in die Mitte des Tisches, damit sich bedienen konnte, wer wollte. Den Warnaufdruck »Rauchen ist tödlich« nahm er gar nicht mehr wahr, so sehr hatte er sich an die Kampagne gewöhnt. Er wartete, bis die giftigen Blicke zwischen Heide und Photini an Schärfe verloren. »Das neueste Gedicht wirkt ironisch. Das ist es doch, was euch gegeneinander aufbringt. Ironie weckt Aggressionen.« Er schaute die beiden Frauen nacheinander an. Sie wichen seinem Blick aus. »Ironie ist aber auch ein Schutzreflex für den, der sich ihrer bedient. In Wirklichkeit entspringt sie einer fundamentalen Unsicherheit.«
»Dann fließt die Arbeit munter fort«, widersprach Heide und nahm eine Zigarette. »Das klingt nicht unsicher, sondern süffisant.«
»Es soll so klingen. Wo auch immer Land untergetaucht ist – gerade fragt er sich, wie er seine Drohung doch noch wahrmachen kann. Er redet sich ein, auf dem richtigen Weg zu sein.«
»Und wie hilft uns das weiter?«, fragte Raupach.
»Im Grunde macht er uns ein unfreiwilliges Geschenk. Er zeigt, dass er Zweifel hat.« Jakub gab Heide Feuer. »Das wollten wir doch erreichen, oder?«
Johan kletterte über die Mauer des Hinterhofs und gelangte auf die Terrasse der Schuhverkäuferin Judy Blaschke. Sie bewahrte den Schlüssel zu ihrer Hintertür in einer leeren Gießkanne auf. Johan durchquerte die Wohnung und kam auf der Neusser Straße heraus. Der Schnee auf dem Bürgersteig war zu einer festen, glatten Masse erstarrt. Jetzt hätte er die Wanderstiefel von Goodens gebrauchen können, die er in seiner Wohnung vergessen hatte. Er trug eine Holzfällermütze von Jef und eine gefütterte Jeansjacke, die er sich von Sheila geborgt hatte. Die Jacke war selbst ihm zu groß. Seit neuestem lief Sheila mit unförmigen Kleidungsstücken herum, die anscheinend aus einem Secondhandshop stammten. In der Innentasche ihrer Jacke ertastete Johan einen Getränkegutschein. »Bass Club« stand darauf mit Adresse und Telefonnummer, eine Diskothek im Belgischen Viertel. Sheila musste sich trotz ihrer Jugend hineingeschmuggelt haben.
Er stieg in den gleichen U-Bahn-Wagen wie Valerie und behielt sie aus sicherer Distanz im Auge. Der Polizist in Zivil setzte sich auf den Sitz hinter ihr. Johan betrachtete die Wülste am Nacken des Mannes. Er war übergewichtig, vermutlich ging ihm schnell die Puste aus.
Wegen der klirrenden Kälte in den Straßen wirkte die tief in die Stirn gezogene Fellmütze unverdächtig. Johan trug nichts bei sich, keinen Rucksack oder ein ähnliches Gepäckstück wie die U-Bahn-Bomber von London. Die anderen Fahrgäste starrten trotzig ins Leere. Am Chlodwigplatz stieg Valerie aus. Johan gab ihr einen kleinen Vorsprung und blieb an der Einmündung zur Merowingerstraße stehen.
Valeries Beschatter stieg in einen Wagen auf der anderen Straßenseite. Offenbar besprach er mit seinen Kollegen die Ablösung. Johan wartete, bis ein vorbeifahrender Lkw die Sicht verdeckte. Dann betrat er das
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