Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
betrachtete sie das verschlossene Heck des Lieferwagens. Der Schriftzug »Barbarossa« stand in martialischen Buchstaben darauf. Wie eine Grabinschrift. Sie knöpfte ihre Jeansjacke zu. Ihre verschwitzten blonden Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Schließlich wandte sie sich ab. Sie begann zu zittern.
1. Dezember
Mit einer Verspätung von nur einer Bahn traf Raupach in Köln-Kalk ein. Er besserte sich. Der neue Wecker, den er um eine halbe Stunde vorgestellt hatte, kam gar nicht mehr zum Läuten. Die Weckfunktion kurz vor dem Klingeln zu deaktivieren stellte einen kleinen Sieg dar. Außerdem war der Hering, den er zum Frühstück gegessen hatte, in Sherry eingelegt gewesen. Süßsauer. Das hob seine Laune.
Bevor er mit dem Aufzug ins Archiv hinunterfuhr, machte er seine übliche Runde. Zuerst durchquerte er die öffentlichen Räume der Dienststelle. Dort wucherte der Alltag. Verkehrssünder protestierten gegen unverschämte Kontrollen und die daraus resultierenden Strafzettel und Vorladungen. Anhänger einer Bürgerbewegung meldeten eine Demonstration an, waren sich aber noch uneins über den genauen Ablauf. Tatsächliche und vermeintliche Misshandlungen, Körperverletzungen, Diebstähle und sonstige Rechtsbrüche der vergangenen Nacht wurden zur Anzeige gebracht, ausgenüchterte Randalierer in die Freiheit entlassen, Drogendealer dem Untersuchungsrichter vorgeführt.
Raupach bahnte sich einen Weg durch all diese Menschen, die sich vom Gesetz schikaniert fühlten – oder Beistand von ihm erwarteten. Es gab ihm die Gewissheit, dass sich die Welt weiter drehte, während er unten in seinen Kellerräumen hockte wie ein Astronaut in seiner Raumkapsel. Zwei streitbare Rentner bezichtigten sich gegenseitig des Rufmords und warfen sich veraltete Schimpfworte an den Kopf. Sie mussten getrennt werden. Ein Taxifahrer meldete seine orientierungslose Großmutter als vermisst. Die Personenbeschreibung wurde aufgenommen und an die entsprechenden Streifenwagen weitergegeben. Eine Frau verließ die Ausgabestelle der Asservatenkammer mit einem Plastiksack. Sie war etwas wacklig auf den Beinen und rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Raupach wich ihr gerade noch aus und lächelte Onkel Osterloh zu, der beschlagnahmte Gegenstände an Freigesprochene oder deren Angehörige zurückgab.
Osterloh hieß Peter mit Vornamen, »Pitter« auf Kölsch. Viele Polizisten trugen diesen Namen, aber Osterloh hatte besondere Qualitäten. Wenn er ein Beweisstück heraussuchte und es einem Kollegen übergab, tat er das stets mit den Worten: »Besser ein Onkel, der wat mitbringt, als eine Tante, die Klavier spielt.« Das hatte ihm seinen Beinamen eingebracht. Er besaß einen reichen Fundus an Redewendungen.
Ein paar jüngere Kollegen kannten Raupach nicht mehr. Ein paar ältere wollten ihn nicht mehr kennen. Aber die meisten nickten ihm kurz zu oder hatten einen aufmunternden Spruch für ihn übrig.
Seit Raupach im Archiv angefangen hatte, trug er wieder Anzug und Krawatte, wie zu der Zeit, als er noch Kommissaranwärter gewesen war. Damals wollte er möglichst seriös wirken, besaß aber noch nicht die dazugehörige Autorität – was ihm das Aussehen eines Banklehrlings verliehen hatte. Kurz darauf tauschte er den Anzug gegen Alltagskleidung und lief wie die meisten seiner Kollegen herum, denen man den Polizisten nur mit einem geübten Blick ansah.
Die Versetzung ins Archiv hatte Raupach wieder mehr Wert auf Äußerlichkeiten legen lassen. Seine Krawatte, auch wenn sie schief saß, und sein dunkles Jackett gaben ihm ein Minimum an Selbstwertgefühl zurück. Schließlich war seine Arbeit nicht völlig nutzlos. Im August hatte er die Wiederaufnahme eines Mordprozesses erreicht. Eine verzweifelte Mutter hatte sich unschuldig verurteilen lassen. In Wahrheit hatte ihr Sohn den Vater erschlagen. Mit einer Bratpfanne. Den Richter hatte das allerdings herzlich wenig interessiert. Und da gerade Ferienzeit gewesen war, hatte es Raupach auch bei der Staatsanwaltschaft wenig Sympathien eingebracht. Die Repräsentanten der Justiz hatten sich so verhalten, als sei er ein lästiger Bittsteller und habe ihnen noch nie einen Tatverdächtigen zugeführt. Als sei der Raupach, den sie persönlich gekannt und geschätzt und mit dem sie mehr oder weniger am selben Strick gezogen hatten, spurlos verschwunden. Ihr Gedächtnis war kurz.
In der Mordkommission begrüßte ihn Heide Thum. Hin und wieder fragte sie Raupach nach dessen Meinung. Sie wusste, dass er sich
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