Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
auf Dauer nicht.
»Gibt es auch einen Umschlag?«
Heide reichte ihm eine Plastikhülle. Das Kuvert hatte das Format einer Postkarte, die Briefmarke zeigte Hildegard Knef, die Adresse war aufgeklebt. Keine handschriftlichen Spuren.
»Wo wurde der Brief aufgegeben?«
»Genau lässt sich das nicht mehr feststellen. Irgendwo im Stadtzentrum.«
Er las den Text noch einmal Wort für Wort durch. Vor drei Jahren wäre dieses Schreiben noch auf seinem Schreibtisch gelandet.
Heide ließ den Rest des Berliners in ihrem Mund verschwinden und wischte die Finger mit einem Kleenex ab. »Ohne diese Dinger wäre ich schon längst reif für die Klapse.«
Raupach dachte nach. Wenn er das tat, nahm sein Gesicht eine Härte an, die auf manche mitleidlos, auf andere unnachgiebig wirkte. Heide zog die Unnachgiebigkeit vor, eine penetrante, aber nützliche Eigenschaft. Seit einiger Zeit fiel es Raupach schwer, sie beizubehalten. Unten im Archiv lief er Gefahr, seinen Biss zu verlieren, dachte sie. Das erste Jahr hatte er noch unbeeindruckt überstanden und die neuen Aufgaben freudig begrüßt. Im zweiten half ihm sein Starrsinn. Jetzt, am Ende des dritten Jahres, mehrten sich Anzeichen von Zermürbung. Er war langsamer geworden, ganz bewusst, wie er sich einredete. Bedachtsam nannte er dieses Verhalten. Aber Heide hatte bemerkt, dass sein Interesse gelegentlich nachließ. Ungenauigkeiten schlichen sich ein. Sie kannte sein privates Chaos. Sein Beruf war dazu immer ein Gegengewicht gewesen. Raupach wurde immer mehr zu einem Hund, der zwar zuverlässig anschlug, sich dann aber ablenken ließ und herumzustreunen begann.
»Ich glaube, wir haben es mit einem Einzelnen zu tun«, sagte er schließlich. »Eine terroristische Gruppierung beruft sich nicht auf Schiller, das wäre denen viel zu abgehoben.«
»Einverstanden. Wir können mehrere Täter zwar nicht ausschließen, aber gehen wir zunächst von einer einzelnen Person aus.«
»Er redet nicht herum. Das Gedicht soll seiner Drohung Nachdruck verleihen. Das heißt –« Er zögerte. Dann korrigierte er sich. »Nein, das Gedicht steht am Anfang. Die Schrift ist größer als der Rest. Sein eigener Text – falls das nicht ebenfalls ein Zitat ist –, sein eigener Text wirkt wie ein Kommentar. Er fügt den allgemeinen Aussagen des Gedichts etwas Individuelles hinzu.«
»Und weiter?«
»Das Gedicht hat eine übergeordnete Bedeutung. Es soll wie eine unumstößliche Wahrheit wirken, verstärkt durch die gereimte Form. Es beschwört das Schicksal, die Kraft des Feuers. Der Zusatz stellt einen konkreten Zusammenhang her. Er ist eine Ankündigung, eine Prophezeiung. Und der letzte Satz deutet auf das Motiv hin: Strafe. Das ist ihm sehr wichtig, deswegen der biblische Tonfall.«
»Sodom und Gomorrha«, setzte Heide hinzu. »Darauf bin ich auch schon gekommen.« In Wirklichkeit war sie beeindruckt. Raupach hatte Witterung aufgenommen.
»Feuer kann Leben erschaffen und zerstören. In vielen Kulturen ist es ein Bild für Läuterung und Sühne. Es steht niemals für sich allein. Feuer ist … Wandlung.«
»Du meinst, dieser Typ will uns mitteilen, dass er gerade einen Schritt weiter gekommen ist in seinem armseligen Leben?«
»Einen radikalen Schritt. Er ist bereit, eine Schwelle zu überschreiten. Zumindest versucht er das mitzuteilen.«
»Zweifelst du daran?«, fragte Heide.
»Von der Entscheidung, eine Tat zu begehen, ist es noch ein großer Schritt zu der Bereitschaft, sie auszuführen«, erklärte Raupach. »Das Gedicht macht mich stutzig. Im Verhältnis zu den anderen drei Sätzen nimmt es mehr Raum ein, auch optisch, die Schrift ist größer.«
»In Wirklichkeit ist die Glocke noch viel länger. Fest gemauert in der Erden und so weiter. Seitenlang geht das dahin. Diese Zeilen stammen ungefähr aus der Mitte.«
»Der Rest des Gedichts schwingt ungesagt mit, er braucht es nicht eigens hinzuschreiben. Gut möglich, dass sich darin noch weitere Andeutungen finden.«
»Na, reizend.«
»Wie auch immer: Jemand, der sich als strafende Hand des Schicksals fühlt, sollte es nicht nötig haben, so einen üppigen Rahmen zu konstruieren. Es sollte andersherum sein: Das Gedicht sollte nur als Motto dienen, als Parole, während die Drohung als die eigentliche Botschaft ausführlicher ausfallen müsste.«
»Lies nicht zu viel zwischen den Zeilen, Raupach, sonst wachsen sie dir über den Kopf.« Für Heides Geschmack war in Raupachs Argumentation jetzt zu viel »sollte« und »müsste«
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