Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
herauszubekommen. Die drei schienen unter einer Decke zu stecken.
Und wenn der dritte Junge auch getürmt war?
Luzius hätte sie kriegen müssen. Er kam sich schrecklich nutzlos vor. Die Höhle, in der sein Glasauge saß, schmerzte. Mit den Handflächen wischte er Jacke und Hose sauber. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge zurück zum Bass Club zu gehen.
Dann bemerkte er den Lieferwagen.
Er stand auf dem Parkplatz eines Bürogebäudes, etwas abseits von der schlecht beleuchteten Seitengasse. Der Laderaum besaß keine Scheiben. Dumpfe Geräusche drangen aus dem Inneren. Ein klatschender Laut war zu hören, dann nichts mehr.
Luzius trat näher. Er horchte.
Jemand wiederholte immer wieder denselben Satz. Es waren drei oder vier Worte, die durch die Blechwand nicht zu verstehen waren. Es klang, als flehte jemand um Hilfe. Die Stimme war hell und hoch. Sie schien von einem Kind zu stammen.
Plötzlich ertönte ein rauer Schrei. Schmerz, vermutete Luzius, gepaart mit Wut.
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Eine Hand versuchte, die Tür aufzustoßen. Dann verschwand sie wieder im Inneren. Die Tür schlug zu.
Die Hand hatte einem Mädchen gehört. Die Fingernägel waren lackiert. Jetzt schwankte der Wagen. Ein Rumpeln, wie wenn ein Körper hinschlug.
Luzius streifte Latexhandschuhe über. Er trug sie für alle Fälle immer bei sich, damit er sich nicht mit wer weiß was ansteckte, wenn er jemandem eine offene Verletzung zufügte. Dann riss er die Tür auf.
Das Mädchen kauerte neben einem Radkasten und hielt die Hände vors Gesicht. Ihr nackter Rücken war mit roten Flecken bedeckt.
Neben ihr stand ein Mann. Er starrte Luzius einen Moment lang fassungslos an. Außer einem weißen Trägerhemd, das sich über seinen muskulösen Oberkörper spannte, war auch er nackt. Auf dem Boden lag eine Matratze, im Hintergrund waren eine große Lautsprecheranlage und die Trommeln eines Schlagzeugs zu erkennen.
Der Tritt des Mannes zielte auf die Kehle. Luzius wich aus, zu spät, seine Schulter wurde herumgerissen. Er taumelte zurück auf die Straße. Der Mann sprang aus dem Laderaum, hob etwas vom Boden auf und setzte ihm durch die Hecktür des Wagens nach. Luzius wehrte den Angriff mit seinem linken Unterarm ab. Die Klinge drang durch den Stoff seiner Jacke und biss ihm ins Fleisch. Er hatte sie nicht kommen gesehen. Auf der linken Seite war er blind.
Luzius kannte sich mit Messern aus. Das Überraschungsmoment des Mannes war verbraucht. Er hätte besser daran getan, sich auf seine Kraft und seine Füße zu verlassen.
Ein gezielter Schlag, und das Messer schlitterte unter den Wagen. Jetzt wurde Luzius böse, ein Gefühl, das er lange nicht mehr empfunden hatte. Es quoll in ihm empor wie Magma, glühend heiß und dickflüssig. Zuletzt hatte es sein Vater zu spüren bekommen. Karl Goodens.
Sein angespannter Körper steckte eine Serie von Hieben weg. Er wischte die Arme des Mannes beiseite, bekam seinen Hals zu fassen und umarmte ihn. Es war eine Bewegung, die wie selbstverständlich aussah, Luzius hatte Jahre gebraucht, bis er sie automatisch beherrschte. Im Fallen drehte er den Körper seines Gegners zurecht, half mit seinem Gewicht nach. Als sie auf dem Boden aufschlugen, hatte er ihn da, wo er ihn haben wollte. Luzius setzte einen Griff an. Der Mann wehrte sich. Das machte es leichter.
Jemandem das Genick zu brechen ist ein zähes Geschäft. Oft gelingt es nicht auf Anhieb, Muskeln und Sehnen sind im Weg. Der Geruch des Mannes stieg Luzius in die Nase. Davon durfte er sich nicht ablenken lassen. Jeder Mensch besaß einen letzten intensiven Geruch. Dieser Mann roch nach altem Leder, nicht unangenehm, registrierte Luzius, als die Wirbel ein lautes Knacken von sich gaben. Er wandte Gewalt an, um Gewalt zu verhindern. Es war das Prinzip seines Lebens.
Der Wagen stand so, dass man ihn von der Straße nicht sehen konnte. Von fern war das Bullern eines Motors zu hören, ansonsten kein Laut. Luzius wartete, bis die Reflexe des Mannes erstarben. Dann warf er sich den schlaffen Körper über die Schulter, schmiss ihn in den Lieferwagen und schloss die Tür.
Das Mädchen hatte sich notdürftig angezogen und war aus dem Laderaum geklettert. Es dauerte eine Weile, bis Luzius sie erkannte.
Sheila schien keine Angst vor ihm zu haben. Auf einen solchen Augenblick hatte sie seit langem gewartet. Jetzt war er da. Sie empfand nichts. Nur Scham, dass Luzius sie so gesehen hatte. Entblößt.
Stumm
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