Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
mehr es davon gab, desto weniger Zeit stand ihr zur Verfügung, alles wahrzunehmen und zumindest einen Teil davon zu begreifen. Es fiel ihm ja schon selber schwer genug, sich ein Urteil zu bilden und all die Belanglosigkeiten auszusondern, die auf ihn einstürmten. Dieser Mann, der jetzt mit Valerie zusammen war, hatte für klare Verhältnisse gesorgt: Zerstöre, was dich krank macht! Angeblich litt er unter einer Persönlichkeitsspaltung, wie es im Radio hieß. Es konnte aber auch sein, dass Größe und Elend bei diesem Menschen Hand in Hand gingen.
Sheila wollte wissen, wann es endlich so weit sei. Luzius müsse seine Nachforschungen über Gunter abschließen. Sie hätten nicht mehr viel Zeit. Im neuen Jahr wollte Sheila bereits in Lüttich zur Schule gehen.
Luzius schlug vor, Gunter an einem Tag zu töten, an dem die Aufmerksamkeit auf den öffentlichen Verkehrsnetzen lag. Dafür war der 23. Dezember am besten geeignet.
»Wo ist er, nun sag schon!«, fragte sie ungeduldig. »Falls es dich beruhigt: Ohne dich gehe ich hier bestimmt nicht weg.«
»Er lebt auf einem Boot.«
Sheila stutzte. »Am Rhein?«
»In einem der Flusshäfen. Mehr sage ich nicht.«
Luzius spürte, wie ihm die Beine den Dienst versagten. Der Blutverlust, nahm er an und setzte sich auf Sheilas Feldbett. Die Kleine schien das zu missdeuten.
»Magst du noch bleiben?«, fragte sie. »Du brauchst nicht gleich wieder zu gehen.« Sheila versuchte, die trübe Stimmung zu vertreiben. Sie war dreizehn. Sie wusste, was Männer taten, wenn sie von einem Mädchen mehr wollten. Luzius machte nie derlei Anstalten. Sie würde ihn gerne dazu bewegen, mit ihr zu machen, was die anderen erzwungen hatten, zumindest probeweise. Was würde sie darum geben! Ihr Verstand verlangte nach einer Pause von vielen Jahren, bevor sie sich wieder von einem Mann berühren ließ. Ihr Herz wollte nichts davon wissen. Sie spürte, wenn nicht bald eine neue Erfahrung an die Stelle der alten träte, wäre sie vielleicht niemals mehr in der Lage, Genuss dabei zu empfinden. So war es doch: Es wurde alles besser, oder?
Das Wundfieber kam. Luzius hatte damit gerechnet. Als die Kugel eingeschlagen und der Schuss unter dem düsteren Himmel verhallt war, hatte er gewusst, dass sein Plan gescheitert war. Der Mann, der ihn angeschossen hatte, hatte trotz der Dunkelheit genau gewusst, dass Luzius hinter dem Lieferwagen gekauert hatte. Nachdem er den Schuss abgefeuert hatte, war er wieder verschwunden. Dadurch war Luzius mit dem Leben davongekommen.
Luzius war in seine eigene Falle gegangen. Mit einer Waffe, die er nicht einmal hatte abfeuern können, so schnell war alles gegangen.
Er sank zur Seite. Das nächste Mal würde er es besser machen. Sheila kümmerte sich um ihn.
20. Dezember
»Das ist nicht wahr.«
»Der Bericht blieb bei Vorderbrügge hängen«, erwiderte Woytas. »Ich kann nichts daran ändern.«
Raupach las die entsprechenden Zeilen laut vor, damit es alle mitbekamen: »Aufgrund der vorhandenen Druckstellen (Totenflecken) liegt es im Bereich des Möglichen, dass sich die Tötung von Raimund Lübben in mehreren Schritten vollzogen hat. Ungewöhnliche Hämatome im Bereich der unteren Halswirbel lassen eine weitere Obduktion als angezeigt erscheinen.« Raupach rollte mit den Augen. Für manche Mediziner war sprachliche Verständigung so kompliziert wie eine Organverpflanzung.
»Wer hat das unterschrieben?«
»Die Signatur sieht nach Professor Wassenhoven aus«, sagte Woytas. »Der Bericht stammt vom 6. Dezember.«
»Ein Tag nach der Weihnachtsfeier im Präsidium«, warf Photini ein. »Am 5. haben wir Lübbens Leiche gefunden.«
»Eigentlich ist es eine Ergänzung.« Woytas wies auf die eingetragene Uhrzeit: 17 Uhr 10. »Das offizielle Gutachten hat Wassenhoven schon gegen zwölf Uhr Mittag abgegeben. Dann hatte er vor, zu einem Kongress in Berlin zu fahren. Und danach in Urlaub.«
Raupach musste sich beherrschen. »Sie meinen, Wassenhoven ist … nach Diktat verreist?«, sagte er leise.
»Aber er kam am Nachmittag noch einmal in die Pathologie zurück, offenbar um seinem Bericht etwas hinzuzufügen.«
»Den Vorderbrügge liegen ließ. Oder übersah. Unterschlug?«
»Schwer nachzuweisen. Wahrscheinlich ging der Nachtrag einfach unter. Jedenfalls wurde die zweite Obduktion nicht vorgenommen.«
»Warum landete der Bericht überhaupt bei Vorderbrügge?«
»Ich nehme das auf meine Kappe, Raupach. Ich hätte mich persönlich darum kümmern müssen.«
»Sie
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