Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
die seinen, nahm Raupach an. Schemenhaft erinnerte er sich an einen Mann im Dufflecoat, vielleicht war er ihm gelegentlich begegnet. Aber das konnte er sich auch nur einbilden. In einer Stadt wie Köln konnte man in der gleichen Straße wohnen und sich nie über den Weg laufen. Oder sich andauernd sehen, beim Bäcker, im Supermarkt, am Stand des Fischhändlers Krusenbaum, wo Raupach selten etwas anderes als Hering kaufte.
Die Frau hieß Cecilie Güsgen. Sie hatte den Kiosk seit der Wiedervereinigung gepachtet, Ende der achtziger Jahre, aber sie könne sich auch irren. Jahreszahlen seien nicht ihre Stärke und auch völlig nutzlos, um den Tag zu bemessen. Unter der Erde zählten nur die Tage, die Zeit folgte hier einem kürzeren Takt. Nach dem Tod ihres Mannes sorgte sie selber für ihr Auskommen. Jupp Güsgen hatte im Ford-Werk Köln-Niehl gearbeitet, zu kurz für eine anständige Rente, zu lange für eine intakte Gesundheit.
Frau Güsgen besaß ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der Polizei, unter anderem, weil sie die Hälfte ihrer Einkünfte dem Staat verschwieg. Die Befragungsgruppen hatten sie nur als verschlossenes Orakel kennen gelernt.
Raupach hatte mehr Glück. Bevor er in den Polizeidienst eingetreten war, hatte er ein halbes Jahr bei Ford Kotflügel ausgestanzt. Er hatte an einem riesigen Stempel gestanden, Blech für Blech eingelegt und seine Hände in Sicherheit gebracht, als das Ding mit einem Gewicht von zwanzig Tonnen niedersauste. Damals mit 22, nachdem er sein Studium geschmissen hatte und es mit ehrlicher Arbeit versuchen wollte, hatte er sich keine großen Gedanken darüber gemacht.
Jupp Güsgen war in der Lackiererei beschäftigt gewesen. Später machten Spritzroboter seine Stelle überflüssig, aber das erlebte er nicht mehr. Er hatte lange genug Farbdämpfe eingeatmet, um mit 57 das Zeitliche zu segnen. Krebs konnte viele Ursachen haben. Wenn Cecilie Güsgen einen Ford sah, verkniff sie es sich meist, einen Kratzer in den Lack zu machen. Hin und wieder tat sie es doch. Die beiden hatten keine Kinder zusammen gehabt, aber eine unerschütterliche Liebe. »Dat wor jet ganz Besonderes. Dat künnt ehr jung Lück üch gar nit mih vürstelle.«
An Gesprächsstoff fehlte es Raupach mit ihr also nicht. Natürlich kenne sie Johan Land, sagte die Frau. Schließlich habe sie Augen im Kopf. Sie deutete auf zwei Brillengläser, die sie aussehen ließen wie eine drogensüchtige Eule. Sie rauchte Camel ohne Filter. Ihre Stimme klang verbraucht.
Raupach kaufte ein Brötchen mit Käse und Schinken. Sie schaute kritisch, offenbar verdiente sie nicht viel daran. Er nahm ein Fläschchen Korn dazu. Sie lächelte und kippte den Inhalt in seinen Kaffee.
»Öm Veedel vür sibbe, häs de gesaht …«
»18 Uhr 43, laut Fahrplan der Linie 15.« Um diese Zeit kam die Bahn, die um 18 Uhr 33 am Rudolfplatz losfuhr, in der Florastraße an.
»Meins de, ich han hee en Stechuhr?«
»So was Ähnliches.«
Übler Husten, vor allem, wenn sie lachte. »Höösch, Jung. Ich ben nit der ganzen Dag am Luure, wä us der KVB kütt. Usserdäm han ich eesch zick Nikolaus en Stund länger op.«
»Sie lesen doch Zeitung?«
»Dat lööt sich nit vermeide.« Sie beugte sich vor und hielt ein Boulevardblatt hoch. »Denk bloß nit, dat ich dat Zeug gään verkloppe. Die maachen op katholisch, wann der Papst kütt, ävver üvverall nor Nackige un dreckelige Inserate. Dat es en Schand! Kanns de do nit ens jet dran maache, als eine vun der Polizei?«
»Leider nein, bedaure. Pressefreiheit.«
»Wo häs de dann su fing Maniere her?«, wunderte sie sich.
»Wer höflich fragt …«
»… gläuv noch an et Chresskind. No jo, es god. Deis jo bloß ding Arbeid.«
»Genau.« Raupach nahm einen Schluck von dem Kaffee. Der Schnaps machte ihn noch ungenießbarer.
»Drink et us, dann es et fott.«
Er befolgte ihren Rat und kniff die Augen zu.
»Schmeck wie dat Veedel, oder? Ävver wat frögs de üvverhaup? Kenns dich doch selver us en der Florastroß! Ich han dich jedenfalls off genog gesinn mem Geschlepps om Rögge wie unse Herr Jesus.«
»Wie bitte?«
»Do häs et ärme Dier!«
»Sie meinen, ich bin melancholisch.« Raupach mochte den Kölner Dialekt, auch wenn er mitunter nicht alles verstand. Er klang nach einer Kreuzung von Deutsch und Französisch. Seine eigene Mundart hatte er sich schon vor langer Zeit mit Bedauern abgewöhnt. »Kennen Sie mich?«
»Manchmal seh ich dich in weiblicher Begleitung.« Frau Güsgen
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