Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
sie zu wenig in der Hand. Woytas würde ihn auf seine taktvolle Art abwimmeln, wie er es meistens tat.
»Wenn es sein muss, ordnen wir einen DNS-Test bei dem Jungen an«, fuhr er fort. »Oder wir drohen der Mutter damit.«
Er wollte es immer noch nicht wahrhaben. Inzest als Motiv wofür? Dass Babettes Mutter ihre Tochter von der Brücke gestoßen hatte? Photini befühlte das Kreuz unter ihrem Pullover. In diese Spur ließ sich alles Mögliche hineininterpretieren. Kein Richter würde ihnen das abkaufen.
Anders als Raupach war Photini schon nach ihrem ersten Arbeitstag im Archiv klar gewesen, dass sie auf einem Abstellgleis standen. Sie hatten es zu tun mit alten Fällen, vergessenen Fällen, Fällen, bei denen sie keinen Schaden mehr anrichten konnten. Die interessanten Delikte bearbeitete eine andere Abteilung. Raupach und Photini kriegten ab, was niemand mehr haben wollte: gelöste Fälle, die möglicherweise Ungereimtheiten aufwiesen.
Raupachs Exil ging auf eine politische Entscheidung zurück. Aufgrund einer Aufsehen erregenden Studie über die hohe Zahl unerkannter Morde in der Republik waren die Innenminister der Bundesländer unter Druck geraten. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen hatte reagiert, indem er die Polizeipräsidenten der großen Städte anwies, Rechercheabteilungen ins Leben zu rufen, um unklare Fälle der Vergangenheit zu überprüfen. Damit hatte er dem Medieninteresse, das schnell wieder abflauen würde, Genüge getan und konnte wieder zur Tagesordnung übergehen. Raupach und Photini waren so etwas wie das Alibi des Ministers. Viel änderte sich durch ihre Arbeit nicht. Meistens wurde Raupachs Empfehlung, einen Fall wieder aufzurollen, aus Kostengründen ignoriert. Sie durften die Akten zwar nach Herzenslust durchforsten, nicht aber selber in Aktion treten, um einen begründeten Verdacht weiterzuverfolgen. Wenn Photini es recht bedachte, standen sie nicht auf einem Abstellgleis. Sie taten Dienst auf einer stillgelegten Strecke, steuerten einen Geisterzug.
Um trotzdem in Form zu bleiben, ging sie auf Raupachs Überlegungen ein. Sie stellte sich die Vernehmung vor. »Lass sie eine Weile warten, bevor die erste Runde beginnt. Sie wird überlegen, wo ihr ein Fehler unterlaufen sein könnte. Es ist nicht einfach, sich nach sechs Jahren alle Lügen in Erinnerung zu rufen. Dann schieben wir einen aktuellen Fall vor. Wir tun so, als bräuchten wir dabei ihre Hilfe. Wir sagen ihr, dass wir nach Analogien zu Babettes Fall suchen, nach einem Erklärungsmuster. Ob sie uns die tragische Geschichte noch einmal erzählen könnte. Wenn sie fertig ist, soll sie noch einmal von vorn anfangen, weil wir ein technisches Problem mit der Aufzeichnung hatten. Wir stellen keine direkten Fragen, erkundigen uns aber wiederholt nach ihrem Sohn. Inzwischen müsste Frederik neun sein. Babette erwähnen wir mit keinem Wort.«
Raupach spann das Szenario fort. »Dann müsstest du die Verständnisvolle mimen und vorgeben, dass es dir Leid täte, sie nach all den Jahren noch einmal zu belästigen. Ihre Wahrnehmung der Geschehnisse sei aber von unschätzbarem Wert für eine laufende Ermittlung.«
»Genau, ich gewinne ihr Vertrauen, während du Kommissar Gnadenlos spielst. Sobald sie sich in Widersprüche verstrickt, hakst du ein. Die klassische Tour.«
»Das wird nicht einfach sein. Diese Vorgehensweise zieht bei solchen Leuten nicht. Dafür sind die viel zu misstrauisch.« Und geheuchelt wäre es obendrein, dachte Raupach. Solche Scharaden erschienen ihm erbärmlich. Die meisten Fälle aus dem Archiv liefen darauf hinaus, sich eine einfallsreiche Manipulation auszudenken. Sie mussten die Menschen in heillose Verwirrung stürzen, um ihren wunden Punkt zu finden, ihren Knackpunkt, wie Woytas sich ausdrückte. Woher nahmen sie das Recht dazu? Wenn es nun doch so gewesen war, wie es den Anschein hatte? Teenager sind unberechenbar. Sie bilden sich eine Menge ein, um sich besonders und einzigartig zu fühlen. »Wir haben nur eine Theorie, vergiss das nicht. Wenn sie falsch ist, richten wir einen Schaden an, der sich nie wieder gutmachen lässt.«
Photini konnte dabei zusehen, wie seine Bedenken wuchsen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er die Sache fallen ließ. Sie kannte den Ablauf. Am Anfang entwickelte Raupach eine Energie, mit der er früher an seine Fälle herangegangen war. Wäre Babettes Tod erst vor ein paar Tagen passiert und wären sie ordentliche Ermittler, dann säßen sie längst in einem
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