Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Angestellten gründete sich allein auf seine Position als Geschäftsführer, was er ahnte, sich aber nicht eingestand. Valerie ließ es nicht auf eine Machtprobe ankommen. Sie schaute weg.
»Halten Sie sich ran«, bellte er. »Versuchen Sie, die fehlende Zeit hereinzuholen.« Er stolzierte davon.
Sie wandte sich ihrer Auftragsliste zu – und konnte nicht fassen, wofür sie heute eingeteilt war. Das Callcenter übernahm das Marketing für eine ganze Reihe von Firmen. Eine Menge dubioser Angebote waren darunter. Hotelgutscheine, Weinproben, Gewinnspiele – alles nur Methoden für die örtlichen Vertreter, einen Fuß in die Tür zu kriegen. Aber sie priesen auch seriöse Produkte an. Ausbildungsversicherungen zum Beispiel. Und Inkontinenzwindeln.
»Inzest zu vertuschen ist nichts Ungewöhnliches.« Photini nahm das Goldkettchen mit dem Kreuz wieder an sich. »Das Schlimme daran ist, dass alle Beteiligten dichthalten. Das Schweigen überträgt sich wie ein Virus. Ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten entsteht. Dabei ist die gesellschaftliche Ächtung noch das geringste Übel. Man kann den Wohnort wechseln, nichts einfacher als das. Viel schwerer wiegen die Ängste. Niemand spricht darüber, aber sie wachsen, immer weiter, bis der letzte Rest Vertrauen aufgezehrt ist.«
»Könnte es der Freund des Mädchens gewusst haben? Oder zumindest geahnt?«
»Dann hätte er entsprechend ausgesagt. Am meisten hatte Babette vermutlich Angst vor sich selbst. Als sie das Kind bekam, war sie noch zu jung, um ihre Schuldgefühle richtig einzuschätzen und auszudrücken. Sie weigerte sich, darüber zu reden oder nur daran zu denken. Dem Vater ging es möglicherweise ähnlich. Blutschande erzeugt eine unsichtbare Schranke.«
Das Wort »Blutschande« kam Raupach archaisch vor. Aber Eifersucht, Demütigung, Angst, Lust an Gewalt und all die anderen Gründe, aus denen Morde begangen wurden, waren es nicht minder. Er versetzte sich in die Lage von Babettes Mutter. Mit anzusehen, wie der Ehemann die eigene Tochter belauerte. Wie er sich davonstahl in der Nacht, von einem Zimmer ins nächste. Die verständnislosen Blicke des Mädchens, das nicht wusste, wie ihm geschah, wem es trauen konnte, was ihm zu fühlen gestattet war. Dann beobachten, wie die verbotene Frucht in Babettes Leib heranwuchs. Es als den eigenen Sohn ausgeben, nachdem das Kind unter Geheimhaltung geboren worden war. Den Jungen tagtäglich sehen, ihn aufziehen und sich vormachen, das sei eine Art Buße. All das wäre noch erträglich gewesen bis zu dem Zeitpunkt, an dem Babette sich entschlossen hatte, das falsche Spiel nicht mehr mitzumachen. Und damit eine Schwelle zu überschreiten. Das musste die Mutter verhindern bei allem, was sie zuvor zugelassen hatte.
»Warum weißt du so viel darüber?«, fragte Raupach. Er konnte nur seine Vorstellungskraft bemühen. Inzest war ihm so fremd wie eine primitive Kultur am Rand der Welt. Und selbst dort gab es Inzesttabus.
»Wahrscheinlich denkst du, in Griechenland wäre das gang und gäbe, zumindest auf dem Land.« Er nickte unwillkürlich. Photini hob hilflos die Arme. »Das, was ich dir gerade beschrieben habe, kenne ich von der Straße in Bonn, in der ich aufgewachsen bin. Von unseren Nachbarn, um genau zu sein. Sie wohnten zwei Häuser weiter. Keiner hat etwas geahnt.«
»Ich habe so etwas befürchtet«, pflichtete Raupach ihr bei. »Mir fehlte nur der entscheidende Hinweis.« Er deutete auf das Goldkettchen, das auf Photinis Handfläche lag. »Spuren haben ein zähes Leben. Die Wahrheit nagt ständig an ihnen. Du hast etwas davon freigelegt.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Photini, dankbar für das Lob, auch wenn es gestelzt klang. Sie legte die Kette wieder an und hakte den Verschluss zu.
Er schob die Unterlagen zusammen, wodurch sie sich nur noch mehr vermischten. »Lieverscheidt hat die Ermittlungen damals geleitet. Einer von denen, die ständig glauben, sie würden woanders dringender gebraucht, ein Zwei-Handy-Mann. Er legte sich sofort auf Selbstmord fest und hielt es nicht einmal für nötig, die Alibis der Eltern zu überprüfen. Um deine Frage zu beantworten: Ich würde gern Babettes Mutter einbestellen.«
Photini sah sie schon vor sich. Stiernackig, argwöhnisch, gepanzert bis ans Herz. Aber dazu hatten sie nicht die Befugnis. Raupach würde Woytas und einen Staatsanwalt davon überzeugen müssen, ein neues Ermittlungsverfahren einzuleiten. Das konnte er sich aus dem Kopf schlagen, dafür hatten
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