Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
schwebte über der Maustaste, mit der sie das Gespräch abbrechen konnte.
»Natürlich wissen Sie es nicht. Ihr seid inzwischen ja wieder überall. Und jetzt wollt ihr uns einreden, dass wir nichts mehr taugen. So weit kommt es noch. Von euch hat es noch viel zu wenige erwischt.«
Das Stichwort blieb aus. War das nun Antisemitismus oder nur sein undeutlicher, seniler Widerhall? Aber Valerie hatte sich lange genug zurückgehalten. So nicht. Heute nicht. Sie hatte sich oft überlegt, was auf so ein Geschwafel zu erwidern sei. Ohne Vorwarnung fuhr sie ihr schwerstes Geschütz auf: »Wegen Leuten wie Ihnen haben wir den Krieg verloren.«
Stille in der Leitung. Valerie wollte die Antwort nicht mehr hören. Es tat gut, ungerecht zu sein, doch an Schadenfreude hatte sie keinen Bedarf. Sie brach die Verbindung ab.
Ein Blick in Machineks Büro sagte ihr, dass er jedes Wort mitbekommen hatte. Sie riss ihr Headset herunter, stand auf und schlüpfte in ihren Mantel. Sie beeilte sich nicht, genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Kolleginnen. Ungläubige Blicke. Als Valerie den obersten Knopf schloss, hatte sie mit diesem Job abgeschlossen. Sie nahm einen Briefbeschwerer vom Schreibtisch, den Sheila einst im Kindergarten gebastelt hatte. Es war ein bunt bemalter Stein mit dem Schriftzug »Für meine Mami«, der einzige persönliche Gegenstand, den sie ins Büro mitgebracht hatte.
Machinek kam ihr entgegen. Sie holte tief Luft. Es gab eine Menge, was sie loswerden wollte. Der Stein in ihrer Hand fühlte sich massiv an.
Er blieb vor ihr stehen und schien zu einer weiteren Strafpredigt anzuheben. »Was war denn das für eine Vorstellung?«, begann er und verstummte, als sie dicht an ihn herantrat. Sie beugte sich vor und zischte ihm ins Ohr: »Ich pfeif auf Ihren Hungerlohn!«
Valerie achtete nicht darauf, wie ihre Kolleginnen reagierten. Sie gelangte zum Aufzug und wartete, dass sich die Türen öffneten. Es war ihr egal, was Machinek von ihrem Verhalten hielt. Vielleicht hatte er ihr gar keine Vorwürfe machen wollen, sondern billigte ihre Reaktion? Das wäre ungewöhnlich, aber nicht gänzlich unwahrscheinlich. Jedenfalls kam er ihr nicht hinterher. Never burn bridges war eine der Regeln, an die sie sich ein Leben lang gehalten hatte. Der Weg hinter ihr stand in Flammen.
Sie betrat die Kabine und drückte auf die Taste fürs Erdgeschoss. Die Türen schlossen sich. Der Aufzug setzte sich in Bewegung.
»Wenn Sie dieses Buch anfangen, werden Sie es nicht mehr aus der Hand legen.«
»Meinen Sie nicht, das ist etwas zu … ausgefallen?«
»Es passt in keine Schublade. Die Autorin ist einzig in ihrer Art.« Johan forderte die Kundin mit einer Geste auf, in den Roman hineinzuschauen. Das war wichtig: Lass sie den Umschlag anfassen. Sie sollen die Seiten zwischen den Fingern spüren, das druckfrische Papier riechen. »Machen Sie sich selbst ein Bild. Es wird Sie von der ersten Seite an packen.«
Er selbst vermied es, ein Buch allzu lange in der Hand zu behalten. Das war nicht nötig.
Die Frau vertiefte sich in den Anfang des Romans. Johan hätte ihr den ersten Absatz aufsagen können. Sätze, die er einmal gelesen hatte, vergaß er nicht.
Aber er war kein wandelndes Zitatenlexikon. Für gewöhnlich las er nur, was für seinen Beruf notwendig war: vollmundige Ankündigungen der Verlage, marktschreierische Klappentexte, verkürzte Autorenbiografien und hin und wieder eine Kritik. Alles mehr oder weniger Produktbeschreibungen. Er konnte unzählige auswendig. Wenn er sie herunterbetete, legte er ein wenig Begeisterung in seine Stimme, damit es glaubhaft wirkte. Er verkaufte Literatur. Das war sein Beruf.
»Sie haben schon einen Roman dieser Autorin gelesen?«, fragte er, als die Kundin das Buch mit einer entsprechenden Bemerkung zurücklegte. Sie nickte.
Eine leichte Verzerrung legte sich über das Bild der Frau. Ihre Umrisse schienen an einen anderen Ort zu wollen. Johan kannte den Ausdruck dafür: Halluzination. Menschen, die halluzinieren, sind sich dessen nicht bewusst, dachte er. Aber diesmal bemerkte er es, daher war er imstande, es zu unterdrücken. Er schloss die Augen. Die Hand in seiner Hosentasche kniff in seinen Oberschenkel, bis der Schmerz unerträglich wurde. Dann schlug er die Augen wieder auf. Das Bild stand still.
»Dann könnte Ihnen diese Erzählung gefallen.« Er dirigierte die Frau zum nächsten Büchertisch. Diesen Trick hatte er sich aus dem Internet abgeschaut: Querverweise. Kunden, die dieses
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