Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
überlegte, ob sie den Scheinwerfer wieder einschalten sollte. Aber der würde sie nur blenden. Also blieb sie, wo sie war.
Nichts geschah. Die Minuten verstrichen, die Kälte nahm zu.
Was auch immer passiert war, Heide durfte Raupach nicht allein folgen. Sie musste Verstärkung anfordern. Die meisten Polizeiregeln waren ihr gleichgültig, aber nicht diese. Sie rief noch einmal nach ihm. Dann öffnete sie die Wagentür, setzte sich auf den Beifahrersitz und tastete nach dem Funkgerät.
Von der Rückbank ertönte ein Räuspern.
»Alles in Ordnung«, sagte Raupach. »Ich bin’s.«
Heide senkte die Waffe. Sie hatte sie blitzschnell gezogen – und hätte sie beinahe abgefeuert.
»Der Ort ist nicht so wichtig. Aber er kommt ihm zustatten«, fing er an, unbeeindruckt von dem Schrecken, den er Heide eingejagt hatte. »Auch wenn es vordergründig keinen Zusammenhang gibt.«
Sie starrte ihn entgeistert an. »Ich hätte gute Lust, dich abzuknallen.«
Er reagierte nicht. »Es gibt Zufälle – und Zufälle. Manche stehen für sich und bleiben Zufälle. Andere sind nur bloßer Schein, eine Folge unserer Unkenntnis, alle Gründe und Ursachen der Ereignisse zu erfassen.«
»Wie hast du dich angeschlichen?«
»Was?« Raupach hatte die letzten Sätze an die Windschutzscheibe gerichtet. Jetzt wandte er sich wieder Heide zu. »Ach so … Ich bin auf der anderen Straßenseite zurückgelaufen. Das war keine Kunst. Du hast nur dorthin geschaut, wo du mich zuletzt gesehen hattest.«
Heide sicherte ihre Waffe und steckte sie zurück in ihr Schulterholster. »Ich hasse dich.«
»Dachtest du, mir hätte der Würger von Longerich den Hals umgedreht?«
»Los, fahren wir zurück.« Sie stieg aus. »Und setz dich neben mich, damit ich dich im Blickfeld habe.«
Sie trafen sich am Kofferraum. Raupach half ihr, den Halogen-Scheinwerfer einzuladen. »Tut mir Leid«, sagte er. »Ich wollte …«
» Was wolltest du?« Heide war stinksauer.
»Meine Intuition. Wenn man eine Zeit lang nur Protokolle und Aktenvermerke liest, geht sie einem nach und nach verloren. Ich wollte herausfinden, ob sie mir noch etwas zu sagen hat.«
»Und? Was spricht sie?«
»Da ist etwas. Ich kann es noch nicht beschreiben.« Raupach dachte angestrengt nach. Dann setzte er erneut an. »Es kommt mir vor, als sei der Mord an Lübben eine Art Probelauf. Auf dem Spielplatz hat es nur gebrannt, ohne dass jemand verletzt wurde. Hier lag eine Leiche. Aber sie wurde nicht mit Benzin übergossen oder so, es gab kein Feuer.«
Die Innenbeleuchtung des Wagens erlosch. Langsam begriff Heide. Er hatte ihr keinen Streich spielen wollen. Es sollte auch keine Wissensdemonstration sein wie im Delphi, als er Publikum gehabt hatte. Raupach hatte sich nur in seinen Spekulationen verloren.
»Vielleicht übt er noch«, fuhr Raupach fort. »Er sortiert seine Handlungen, um sie für seinen nächsten Schritt zu koordinieren.«
»Hab Geduld, Klemens«, sagte sie. Seine Mutmaßungen kamen ihr zunehmend abwegig vor. Sie nahm sich vor, nachsichtiger zu sein. »Meine Intuition spricht auch nicht auf Zuruf mit mir. Um ehrlich zu sein, kriegt sie die meiste Zeit kaum den Mund auf.«
»Dann musst du sie zu Wort kommen lassen.« Er öffnete seine Hand und hielt ihr einen Gegenstand hin. Es war ein Zigarrenstummel. »Das lag am Ende der Unterführung. Der Tabak ist aufgeweicht, aber nur ein bisschen. Die Zigarre wurde vielleicht vor ein oder zwei Tagen weggeworfen.«
»Und du glaubst …?«
»Hier ist wenig Verkehr. Wie viele Autos kommen hier täglich durch? Seit wir hier sind, war es genau eines.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Zigarre von Lübbens Mörder stammt, ist äußerst gering.«
»Das stimmt.« Raupach machte eine Pause. »Und was sagt dir deine Intuition?«
»Schmeiß das Ding weg«, sagte sie.
»Gut.« Er ließ den Stummel zu Boden fallen.
»Und jetzt?«, fragte sie, verwundert, dass er so schnell nachgegeben hatte.
Sie standen immer noch hinter Heides Dienstwagen. Es war eine vertraute Situation. Wenn sie früher ihre Gedanken über einen Fall ausgetauscht hatten, waren sie dafür oft aus dem Auto gestiegen und hatten sich Bewegung verschafft. Das Wageninnere blockierte neue Ideen. Und es verhinderte, dass man ein wenig Angst bekam. Die brauchte man aber, wenn man sich vorwagte auf unbekanntes Terrain.
Er zögerte, wusste nicht, ob er es ansprechen sollte. Dann rang er sich durch. »Was findest du an Paul?«
Sie wich zurück. »Warum fragst du mich das
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