Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
sie das trockene Fleisch herunterbrachte.
»Das muss unter uns bleiben«, schärfte Heide ihm während der Rückfahrt ein.
»Aber natürlich. Ich würde mir nie erlauben, irgendwelche voreiligen Schlüsse zu ziehen.« Raupachs Mund schmeckte nach dem Pfefferminzbonbon, das Heide im Mund gehabt hatte. »Ich meine, es war bitterkalt, du standest quasi unter Schock, und Mitleid kam auch noch dazu. Dies alles reicht als Erklärung vollständig aus.«
Sie rührte in der Gangschaltung, als wolle sie das Getriebe spüren lassen, dass mit ihr nicht zu spaßen war. »Bild dir bloß nichts darauf ein. So etwas passiert mir andauernd. Glaub nicht, dass du der Einzige bist.«
Raupach wusste, dass sie ihre aktuellen und verflossenen Liebhaber hin und wieder durcheinander brachte. Nur mit ihm war ihr das noch nie passiert. Er fragte sich, warum er in Heides Armen zu einem willenlosen Teenager wurde. Dieser Kuss … Leidenschaftlich war ein zu schwaches Wort, stürmisch klang zu altbacken. Überfallartig kam hin. »Schon gut«, sagte er schließlich. »Ist ja nichts weiter passiert.«
»Wirklich?« Sie war enttäuscht, dass er widerspruchslos einlenkte. Ihrem Eindruck nach hatte es ihm gefallen. Zumindest hatte er den Kuss äußerst bereitwillig erwidert.
»Du bist in festen Händen, Heide. Oder nicht?«
»Richtig«, erwiderte sie.
»Dann nehme ich es als Beweis alter Freundschaft.«
Raupach hob es sich für später auf, seine Gefühle zu bewerten. Er hing an Heide. Aber welche Formen das im Laufe der Zeit annehmen und zu welchen Situationen das führen konnte, darüber hatte er sich bislang keine Gedanken gemacht. Vor allem nicht darüber, was sie von ihm erwartete. Ihr letzter Kuss lag mindestens zehn Jahre zurück. Die Erinnerung daran war verwischt wie ein diesiger Morgenhimmel des Fernsehmalers.
Sie fuhren zu ihrer Wohnung in Köln-Sülz und machten sich frisch, um bei der Weihnachtsfeier ein akzeptables Bild abzugeben. Raupach wusch sich nur die Hände, während Heide eine geschlagene Stunde im Badezimmer blieb. Sie verloren kein weiteres Wort über den Vorfall.
Raupach nutzte die Zeit und bereitete sich vor dem schweren Wandspiegel im Gang auf den Abend vor. Es würde zu höchst aufschlussreichen Gesprächen kommen, aufgrund des Briefings vom Vormittag war er sich da sicher. Er nestelte an seiner Krawatte herum und überprüfte den Sitz seines verbeulten Jacketts. Für einen Moment befürchtete er, dass sein hoffnungslos aus der Mode gekommener Anzug im Zuge einer dieser unergründlichen Retrowellen wieder en vogue war. Dann vergegenwärtigte er sich das Erscheinungsbild von Woytas, Trautmann und den anderen. Körperbetonte Schnitte, Respekt gebietende Anzugswesten, Seidenbinder in leuchtenden Streifenmustern. In ihren Dreiteilern waren sie von Politikern kaum zu unterscheiden.
Im Vergleich dazu stellten Raupachs Schuhe einen zweckdienlichen Kontrast dar. Es waren unförmige Treter, das Leder aufgequollen und stumpf, eine einzige Katastrophe. Bei einer Weihnachtsfeier stand man die meiste Zeit herum, der Blick wanderte bei einer Unterhaltung unwillkürlich nach unten. Die Wirkung des Schuhwerks war also nicht zu unterschätzen.
»Wir müssen uns auf die Ebene dieses Mannes begeben, Woytas«, sagte Raupach mit der hohen Stimme von Himmerich. »Schluss mit diesen Briefen.« Er drehte sich langsam vor dem Spiegel und machte dazu einnehmende Gesten, als spräche er mit dem Ersten KHK. Raupach hatte zwar eine Abneigung gegen Scharaden, doch sie erstreckte sich nur auf den Umgang mit Verdächtigen oder Zeugen. Jetzt ging es darum, seine Position zu festigen und eine Art »freundliche Übernahme« für eine erfolgreiche Ermittlung im Fall Schiller anzubahnen.
So viel war Raupach klar: Dieser Fall erforderte ein Vorgehen, das er jemandem, der etwas zur Chefsache erklärt hatte, nicht zutraute. Woytas mit seinem Übertrumpfungsgehabe ließ es an dem nötigen Respekt fehlen. Nicht die Polizei war momentan am Drücker, sondern der Briefeschreiber. »Sie dürfen sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen«, fuhr er fort. »Sie müssen agieren, nicht reagieren.« Die Gestalt im Spiegel schwieg. Raupach öffnete den Mund, behielt seine weiteren Gedanken aber für sich.
Wenn man einem Täter keine Achtung entgegenbrachte, kam man über einen bestimmten Punkt der Ermittlung nicht hinaus. Für gewöhnlich folgte man dem ausgetretenen Pfad, den Generationen von Polizisten vorgezeichnet hatten, und erreichte unweigerlich
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