Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
auf die Fensterscheibe an der gegenüberliegenden Seite des Wagens. Die Tunnelpfeiler flogen vorbei. Sein Spiegelbild wackelte bei jeder Erschütterung des Wagens. Er sah einen Mann in der Mitte des Lebens. Zurückweichender Haaransatz, darunter eine zerfurchte Stirn, Augen, die selten still standen, eine auffallend lange Nase. Die Mundwinkel wiesen nach unten, woran auch ein gezwungenes Lächeln nichts ändern konnte. Kein Anblick zum Verlieben, doch mit so ungleichen Ausprägungen, dass Raupach sich gelegentlich selber Rätsel aufgab.
Er würde kein Wort über seine Niederlage verlieren. Sie war vernichtend gewesen: Gerade mal in einer Übung war es ihm gelungen, so gut wie der Durchschnitt zu sein. Eine Aufgabe zur Kreativitätsförderung. Sie bestand darin, einen Berg zu zeichnen. Ohne Zeitlimit.
Er hatte nur einen Bleistift benutzt, keine Farben. Mit ein paar Strichen hatte er den Stromboli skizziert. Er kannte den Vulkan von einer Gruppenreise in den Süden. Seine Zeichnung zeigte nicht nur den Krater, sondern den ganzen Berg samt Fuß, einzelnen Hängen und dem Meer. Die Größenverhältnisse waren genau so wie in Wirklichkeit, darauf legte Raupach besonderen Wert. Nach Einschätzung des Dozenten und der anderen Teilnehmer war sein Bild »ganz gut«, nicht »umwerfend« wie das von Katharina, aber immerhin. In der Gesamtwertung hatte er dennoch den letzten Platz belegt. Er war sich wie ein Dorftrottel vorgekommen.
»Dein Glück, dass es nur Gedächtnistraining ist. IQ-Quatsch und so was.« Photini hatte den Prospekt des Training-Centers MemPower auf seinem Schreibtisch liegen sehen und aus Neugier darin geblättert. »Wenn du deine emotionale Intelligenz unter Beweis stellen müsstest, würden sie dich sofort rauswerfen«, setzte sie hinzu.
Er umklammerte die Haltestange neben dem Sitz. »Und was ist mit sozialer Intelligenz?«, fragte er. »Bist du darin auch Expertin?«
»Autsch, das hat gesessen.« Sie lachte so herzlich, dass auch Raupach schmunzeln musste.
Über ihre zwischenmenschlichen Defizite erzählte er ihr nichts Neues. Sie kannte ihre Fehler, unternahm aber nichts, sie zu beheben. Zum Beispiel sah sie nicht ein, warum sie ihre Persönlichkeit mit Dienstantritt verleugnen sollte.
»Vielleicht hast du Recht«, räumte sie ein. »Für Fortbildung ist es nie zu spät. Auf der Polizeischule bringen sie einem nicht alles bei.«
Ihre guten Vorsätze waren noch schlechter als seine, fand er. Photini war viel zu stolz für eine freiwillige Fortbildung. Sie würde nie so einen Kurs belegen.
»Lass dich nicht beirren«, sagte er. »Deine Zeit kommt noch. Mit mir als Vorbild weißt du wenigstens, wie man stilvollendet auf dem Bauch landet.«
Er spielte es herunter. Photini erkannte, dass sie zu weit gegangen war. »Mach dir nichts daraus«, sagte sie. »Solche Seminare haben keine Bedeutung. Von diesen verkrachten Psychologen hat doch keiner eine Ahnung, worauf es wirklich ankommt. Wenn es darum geht, Spuren zu lesen, steckst du jeden in die Tasche.«
Raupach war gerührt. Sie versuchte, ihm zu schmeicheln.
»Wie sagst du immer?«, fragte sie.
Jetzt war es offensichtlich, dass sie ihn aufmuntern wollte. Glücklicherweise wurden sie von der Ankündigung der nächsten Haltestelle unterbrochen. Er stand auf und stellte sich vor die Wagentür. Das machte er immer ein bisschen zu früh, wie jemand, der selten in die Großstadt kommt.
Sie wartete neben ihm. Ihr Pony befand sich auf der Höhe seiner Achseln.
»Na los, ich kann mir den Spruch einfach nicht merken.«
Die Bahn fuhr in die Station »Neumarkt« ein. Photini stupste ihn an.
»Spuren sind in, zwischen und hinter den Dingen«, sagte er langsam. Dann lächelte er. Photini sah es in der Scheibe, bevor sich die Tür mit einem Rumpeln öffnete.
Die Wahl fiel auf Valerie. Johan zog den Vorhang beiseite und machte es sich mit einer Schale Keksen und einem Glas Milch am Fenster gemütlich. Marta hatte diese Kombination geliebt. Für Johan war es nur ein Ritual. Essen und Trinken besaß für ihn keinerlei Reiz. Das Teleskop stand an seinem angestammten Platz. Sein Notizbuch lag auf seinem Oberschenkel. Es konnte losgehen.
Irgendetwas in Valeries Leben war heute anders. Er stellte die Linse scharf – ein Augenblick, den er immer aufs Neue genoss. Das Okular war ein Teil von ihm. Wenn er hindurchsah, trat er zugleich in Vergangenheit und Zukunft ein. Sein Brief kam ihm in den Sinn. So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten, was durch schwache
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