Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Kraft entspringt. Er war gespannt, ob jemand die Verse erkennen würde.
Valerie tanzte. Das sah er ganz deutlich. Sie hielt ein Glas Wein in der Hand und wirbelte damit durchs Wohnzimmer. Es schwappte über. Sie achtete nicht darauf. Inzwischen konnte sie das ungestraft tun, dachte Johan. Aber bisher hatte sie es nicht getan, das ganze Jahr über nicht.
Was hörte sie wohl? Sie hatte einen Stapel CDs in der Hand. In regelmäßigen Abständen nahm sie eine und warf sie in einen Müllsack.
Johan machte eine Notiz. Anfangs hatte er Martas alte Videokamera benutzt. Die hatte sich schnell als ungeeignet erwiesen. Wenn er sie bediente, entstanden nur banale technische Reproduktionen, die genau das abbildeten, worauf das Objektiv gerichtet war. Er wollte aber Aufzeichnungen anfertigen, die durch seine eigene Hand und seinen Kopf gegangen waren. Das war wichtig. Eine Kamera wurde zwar von Hand geführt, aber sie tat zu viel von alleine, zu viel, was seinem Einfluss entzogen war. Ein handschriftliches Protokoll trug dagegen einzig und allein den Stempel seines Urhebers.
Marta hatte mit der Kamera virtuos umgehen können, sie war eine große Künstlerin gewesen, vielleicht die beste auf ihrem Gebiet. Ihre Aufnahmen hätten es verdient gehabt, im Museum Ludwig gezeigt zu werden. Dagegen war sein Geschreibsel nur das Werk eines Dilettanten.
Als Valerie alle CDs weggeworfen hatte, ging der Wein in der Flasche zur Neige. Sie holte eine neue aus einem Karton mit der Aufschrift »Pavillon Royal«. Johan schraubte an der Linse. Auf der leeren Flasche war der Zusatz »Doux« verzeichnet. Sie trank Süßwein. Er schrieb es auf. Das sollte wohl alles überdecken, was ihr widerfahren war. Als ob das mit Alkohol so einfach ginge. Sie hatte nichts dazugelernt. Nachdem sie Hölle und Fegefeuer durchschritten hatte, meinte sie wohl, jetzt winke ihr das Paradies.
Betrunken taumelte sie gegen eine Box. Inzwischen trug sie nur noch ihren Slip und ein Spitzenhemdchen. Johan hatte ihrer Unterwäsche noch nie viel abgewinnen können. Da war ihm schon Aufregenderes vor Augen gekommen.
Erstaunlich viele Menschen dachten gar nicht daran, die Rollläden herunterzulassen, wenn sie im Badezimmer an ihren Körpern herumfuhrwerkten. War es Unbedarftheit oder ein Hang zum Exhibitionismus, der sie dazu anstiftete? Welche Art von Freiheit drückte sich darin aus?
Wenn Johan wollte, konnte er jeden Tag Zeuge von Peepshows werden, die in nur dreißig, vierzig Metern Luftlinie von ihm entfernt abliefen. Judy, 22, Schuhverkäuferin. Cora, 25, Sportstudentin. Iris, 42, Hausfrau. Sie waren ihm gleichgültig. Solange sie nicht die U-Bahn zu einer bestimmten Tageszeit benutzten, konnten sie von ihm aus auf einem anderen Erdteil wohnen.
Jetzt machte sich Valerie über Jefs E-Gitarre her. Es sah aus wie bei einem Rockkonzert. Sie ergriff das Instrument am Hals, holte weit aus und zertrümmerte es, als wollte sie mit einer Axt Wurzelholz spalten. Immer wieder schlug sie zu. Der gläserne Couchtisch, die Weinflasche, alles ging dabei zu Bruch.
Johan konnte die Fülle der Ereignisse nicht fassen, die unverhoffte Dramatik. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Teleskop und seinen Notizen.
Schließlich sank sie vor den Trümmern zu Boden.
Wie oft hatte Johan sie so daliegen gesehen? Die Arme schlaff am Körper, die Beine gespreizt, als würde sie ihr Schicksal selbst gebären. Nur vor einem Jahr war es anders gewesen, in einem verlockenden Augenblick. Selbst durch die Linse der Videokamera, die er damals noch benutzte, war zu spüren gewesen, wie die Situation auf einen Punkt zugesteuert war, von dem es keine Rückkehr gab. Valerie hatte bis zuletzt gezögert. Dann hatte sie sich aufgerichtet und ihr Leben in die Hand genommen.
Sollen wir sie von der Liste streichen? Der Gedanke gefiel ihm, auch wenn Marta ihn nur zähneknirschend duldete. Johan wog ihn ab, spielte damit, als stände sein Vorhaben nicht schon längst unverrückbar fest.
Einmal hatte er Valerie in der U-Bahn beinahe angesprochen. Station für Station hatte er sich die Worte zurechtgelegt. Ein unverfänglicher Versuch, Konversation zu machen. Dass sie immer denselben Wagen wie er nähme, was das für eine schöne Gemeinsamkeit sei.
Auf diese Weise hatte er einst Marta kennen gelernt. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, stand ihm ihr Bild so klar vor Augen, als säße sie neben ihm auf der Bettkante. Damals in der Linie 18 am Hauptbahnhof war es ihm gelungen, den ersten Schritt zu tun. Marta
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