Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
»Stell dir vor, es ist Herbst. Die Sonne scheint, aber es ist schon ziemlich kühl. Ihr geht nach draußen, um …«
»Der Mann hat lange Beine gehabt, länger als deine.«
»Wie?«, fragte Raupach überrascht.
»Und Streifen an den Ohren, wie Papa.« Laurent deutete auf das Foto auf dem Sims des Ofens. Gabor Siklossy hatte lange, gepflegte Koteletten. »Die Streifen waren aber rot.«
»Du verblüffst mich, Laurent. Warum weißt du, was ich dich fragen will?«
»Mama hat doch mit dir geredet«, gab er zurück. »Über den Spielplatz. Und über Räuber.«
Offenbar hatte Laurent gelauscht und seinem Bruder die Malträtierung des Dienstausweises überlassen. »Beschreib mir diesen Räuber genauer«, sagte Raupach. »Was hat der Mann getan?«
»Er sitzte auf der Bank und schaute sich alles an.«
»Wen? Die Kinder?«
»Nicht wirklich.« Laurent schien eine Wendung auszuprobieren, die er aufgeschnappt hatte.
»Wie meinst du das? Was schaute er sich an?«
»Sachen. Unsere Burg.«
Raupach rief sich den Spielplatz in Erinnerung. Am Morgen hatte er ihn ausführlich in Augenschein genommen. »Ist das die Höhle aus Zweigen?«
»Nein, es ist eine Burg. Eine Höhle liegt unter der Erde.« Laurent rollte mit den Augen über so viel Unwissen.
»Du hast Recht«, sagte Raupach. »Der Mann beobachtete also den Spielplatz. Wie sah er aus?«
»Hab ich doch gesagt«, erwiderte Laurent ungehalten.
Raupach machte eine Pause und gab dem Jungen Zeit, sich zu sammeln. Lange Beine und rote Koteletten. Er hätte das gerne notiert, unterdrückte aber den Impuls, um Laurent nicht zu verunsichern. Sein neues Notizbuch war ein Vokabelheft mit Spaltenunterteilung, das Erstbeste, was er in dem Schreibwarenladen gefunden hatte. Er leckte den Milchschaum des Cappuccinos vom Löffel. »Wie alt war der Mann?«
»So alt wie du.«
»Was hatte er an?«
»Hemd. Hose. Die Schuhe waren sauber, nicht so wie deine.« Laurent zeigte auf Raupachs verwitterte Treter. Jetzt schien ihm das Gespräch wieder Spaß zu machen.
»Erzähl weiter. Trug er etwas Ungewöhnliches, etwas Besonderes?«
»Weiß nicht.«
»Hatte er eine Mütze auf?«
»Nein.«
»Hat er sich irgendwie unterschieden von den Männern, die du kennst?«
Laurent dachte über diese Frage nach. Anne Siklossy betrat das Zimmer und verfolgte das Gespräch. Sie hielt Konrad auf dem Arm, der aus irgendeinem Grund geweint hatte. Sie wirkte skeptisch, mischte sich aber nicht ein.
»Sein Mantel war anders«, sagte der Junge schließlich.
»Er trug einen Mantel?«
»Mama hatte auch einen Mantel an. Aber an dem Mantel von dem Mann waren keine Knöpfe.«
Raupach wurde stutzig. Was hatte das zu bedeuten? »Ein Reißverschluss?«, schlug er vor und deutete auf seine Jacke.
»So Knubbel.« Laurent sah sich geschäftig um. Dabei entdeckte er seine Mutter. »Wo sind die Nüsse, Mama?«
»In der Schale auf dem Sideboard«, sagte sie und reichte sie ihm. Von dieser Begegnung würde Laurent bis Weihnachten erzählen. Sie war gespannt, was ihr Sohn dem Kommissar noch alles mitteilte. Sie selber bekam normalerweise kaum ein Wort aus ihm heraus.
Laurent hielt eine Mandel hoch. »Knubbel!«, rief er.
»Knebel«, vermutete Raupach und versuchte sich daran zu erinnern, wie man ein Kleidungsstück nannte, das man mit Knebeln schloss. Als er nicht darauf kam, fuhr er mit einem bedeutsamen Blick zu Anne Siklossy fort: »Hast du mit dem Räuber gesprochen?«
»Ja.« Pause. »Einmal.«
»Weißt du noch, was er gesagt hat?«
» Ich hab was gesagt. Er hat zugehört.«
»Und was hast du gesagt?«
»Dass wir gegen den schwarzen Ritter kämpfen und unsere Burg verteidigen und jeden volle Attacke in die Flucht schlagen.«
Raupach horchte auf. »Wer ist der schwarze Ritter?«
»Einer aus dem Fernsehen«, antwortete Laurent gelangweilt. Allmählich verlor er das Interesse.
»Hat dich der Räuber bedroht?« Raupach konnte diese Frage der Mutter nicht ersparen.
Anne Siklossy wartete gebannt. Sie begriff, dass Laurent von einem fremden Mann sprach, den er auf dem Spielplatz getroffen hatte. Er hatte nie etwas davon erzählt, dachte sie alarmiert. Mit Schaudern fragte sie sich, was er ihr noch alles verschweigen mochte.
Der kleine Konrad wurde zappelig. Sie flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. Ein paar Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Wolken und warfen unruhige Muster aufs Parkett.
»Aber es war gar kein Räuber«, sagte Laurent plötzlich.
»Kein Räuber?«
» Du sagst das
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