Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
ausgestreckt. »Man wird es niemals los.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie an sich. Ein paar zurückgehaltene Tränen fielen auf seinen Arm. Er wich zurück, aber sie hielt ihn fest und strich mit den Fingern über die Narbe.
»Wir sind schon zwei seltsame Krüppel«, sagte sie und sann über eine Formulierung nach, die nicht zu abgedroschen klang. »Ein Teil von uns erzählt von der Vergangenheit. Der Rest schwitzt sich durch die Gegenwart. Gibt es etwas an unseren Körpern, das in die Zukunft weist, Johan?«
Er konnte die Frage nicht beantworten.
»Ronny Materlink wurde mit einem Stromkabel stranguliert. So viel lässt sich rekonstruieren.« Heide nippte an ihrer Latte Macchiato. Mittags war das Café voll besetzt. Sie saßen an dem letzten freien Tisch, gleich neben dem Durchgang zu den Toiletten.
»Dann hat der Täter das Feuer gelegt«, bemerkte Paul.
»Es kam durch einen Kurzschluss zustande«, fuhr Heide fort. »Wahrscheinlich hat jemand die Stromführung von zwei herausgerissenenen Kabeln aneinander gehalten. So hat es mir die Feuerwehr erklärt. In der Künstlergarderobe befand sich jede Menge Verpackungsmaterial von der neuen Soundanlage, die kürzlich in der Diskothek eingebaut wurde. Leicht entzündlich.«
»Zeugen?«, wollte Raupach wissen.
»Ronny Materlink war bekannt dafür, dass er in seinen Pausen nicht gestört werden wollte. Vermutlich nahm er Kokain oder irgendein Aufputschmittel.«
»Die Spurensicherung tut ihr Bestes«, warf Paul ein.
»Also hat niemand etwas gesehen.« Raupach kam sich neben Paul wie ein Zwerg vor. Dieser Mann war ein Leuchtturm, eines dieser kantigen Ungetüme, die mehr einer Festung als einem Seezeichen glichen.
»Die Garderobe ist von der Diskothek und über einen Seiteneingang zugänglich. Das Personal hatte alle Hände voll zu tun, Stoßzeit an der Bar, alle haben ein Alibi oder sie geben sich gegenseitig eines.«
»Gibt es wieder einen Brief?«
»Nein. Aber die Garderobe brannte fast völlig aus. Wenn er ihn offen hingelegt hat …«
»Das würde er nicht tun.« Raupach schüttelte den Kopf. »Er würde irgendein Behältnis zurücklassen, am besten feuerfest, in dieser Beziehung geht er auf Nummer sicher.«
»Bei Lübben wurde auch nichts gefunden«, widersprach Heide. »Unser Täterprofil ist alles andere als schlüssig.«
»Wer hätte einen Grund, einem DJ ans Leben zu wollen?«, fragte Raupach.
»Einem abgehalfterten DJ«, ergänzte Heide. »Materlink war am Ende. Eine Zeit lang versuchte er sich als Manager in der regionalen Musikszene. Er lag immer daneben. Bei der Bank und den Geldverleihern stand er mit siebzigtausend in der Kreide, ohne Aussicht auf Rückzahlung.«
»Ein Einzelgänger wie Lübben.«
»Mehr als das. Materlink hatte buchstäblich niemanden.«
»Wir brauchen eine Liste der Tätigkeiten, denen er in den letzten Jahren nachgegangen ist. Jemand muss ihn doch näher gekannt haben.«
»Wird gemacht«, erwiderte Heide. »Woytas ist wachsam, aber seine Beliebtheit sinkt, seit er den Kettenhund des Chefs spielt. Ich kümmere mich darum.«
»Lass uns mit Lübbens Freundin sprechen«, schlug Raupach vor. »Wer hat sie vernommen?«
»Grabner. Der ist verlässlich, aber überlastet.«
»War Woytas schon bei ihr?«
»Ich weiß nicht.«
»Vielleicht kommen wir ihm zuvor.« Raupach winkte der Bedienung zum Zahlen. »Paul, du kümmerst dich um mehr Einzelheiten in Sachen Materlink. Sieh zu, dass du aus den Kollegen von der Spurensicherung etwas herauskriegst.«
»Wird gemacht.«
»Und wir beide lesen jetzt erst mal Höttges auf«, sagte Raupach zu Heide.
»Was willst du denn mit dem?«, fragte sie verblüfft. »So, wie ich ihn kenne, sitzt der mit einer Heizdecke zu Hause und wartet auf den Sommer.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden, er hat es sich verdient. Höttges ist einer von den Unermüdlichen, auch wenn er einen anderen Eindruck vermittelt. Denk an die Aussage des kleinen Laurent. Die haben wir Höttges zu verdanken.«
»Ein blindes Huhn findet auch ein Korn.«
»Eben. Man muss es nur herumpicken lassen.«
Silke Scholl war Malerin. Großflächige Leinwände standen in jedem Winkel der alten Fabrikhalle herum, auf Staffeleien, Tischen und Podesten, oder sie lehnten in einer Reihe nebeneinander, weil der Platz fehlte, jedes Gemälde aufzustellen. Es war ein völlig anderer Stil, als Raupach ihn von dem Fernsehmaler kannte. Die Bilder zeigten Erde. Geologische Formationen in verschiedenen Anordnungen, Phasen der Schmelze
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