Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
»Wir möchten in Erfahrung bringen, wer Raimund ermordet hat. Dafür müssen wir wissen, mit wem er in Kontakt stand.«
»Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Mir ist schon klar, wie seltsam das klingt, aber wir hatten uns nicht viel zu sagen.«
»Sie kannten ihn doch.«
»Er war dauernd unterwegs. Und ich bin beschäftigt, wie Sie sehen.« Sie wies auf die Bilder.
»Bedauern Sie seinen Tod?«, fragte Raupach und setzte sich auf den freien Drehstuhl.
Silke Scholl erwiderte seinen Blick. Sie mochte direkte Fragen. »Muss ich das?«
»Das heißt, er ist Ihnen gleichgültig.«
»Ja«, sagte sie mit entwaffnender Offenheit. »Wenn er ausgezogen wäre, liefe es auf das Gleiche hinaus. Weg ist weg.«
»Er wurde umgebracht. Das macht einen Unterschied.«
»Menschen kommen und gehen, das ist der natürliche Gang der Dinge.«
Entweder kannte diese Frau nur ihre Kunst, überlegte Raupach. Oder hinter ihrer Mitleidlosigkeit steckte mehr, als sie zugab. »Hatten Sie Streit?«
»Mache ich mich verdächtig, wenn ich nicht ein gebührendes Maß an Betroffenheit zeige?«
»Beantworten Sie bitte meine Frage.«
Sie lächelte wieder, doch dieses Mal gefiel es Raupach überhaupt nicht, wie sie die Mundwinkel verzog. Es war ein Lächeln ohne Gefühl.
»Ray war ein roher Mann«, sagte sie schließlich. »Er neigte zu Gewalt. Aus diesem Grund habe ich mich mit ihm eingelassen.«
»Weil er gewalttätig war?«, fragte Raupach ungläubig.
»Ich brauchte diese Erfahrung. Extreme Sinneseindrücke bringen mich weiter. Alles andere«, sie trat die Zigarette auf dem nackten Betonboden aus und angelte nach einer neuen, »seine Kontakte, wie Sie sagen, ob er Freunde oder Bekannte hatte, wie er zu Geld kam, das alles interessierte mich nicht. Wir sind unsere eigenen Herren, nicht wahr?«
»Ob ich wohl Ihre Toilette benutzen dürfte?«, fragte Höttges vom anderen Ende des Raumes. Heide warf ihm einen giftigen Blick zu. Silke Scholl deutete auf eine Tür neben einem Hochbett, dem einzigen wohnlich wirkenden Einrichtungsgegenstand in dem Atelier. Raupach gab ihr Feuer. Jetzt begriff er diese Frau. Sie überschritt Grenzen, um zu tieferen Einsichten zu gelangen. Das war mutig. Verständnis für ihre Methoden hatte er jedoch nicht.
»Sie haben also keinen Anlass, ihn zu vermissen.«
»Nicht den geringsten.« Sie schüttelte den Kopf. Er wollte es einfach nicht verstehen, dachte sie. Welche Vorstellung machte sich dieser Polizist von der Welt? Für besonders abgebrüht hielt sie ihn nicht.
»Denken Sie nach. Gibt es nichts, was Raimund Lübben in irgendeiner Weise ausgezeichnet hat?«
»Müssen Sie seine Grabrede halten?«, fragte sie hämisch. »Na gut, mir fehlt tatsächlich etwas.«
»Und das wäre?«
»Sein Bus.«
»Wie?«
»Der Lieferwagen, mit dem er immer herumfuhr. Da war sein Schlagzeug drin, manchmal holte er es heraus, um darauf zu üben. Aber das kam selten vor.«
»Und was war an dem Bus so besonders, dass Sie ihn vermissen?«
»Ich konnte meine Bilder darin transportieren«, gab sie trocken zurück. »Bei großen Formaten ist das sehr praktisch.«
»Wo befindet sich das Fahrzeug jetzt?«
»Keine Ahnung.«
»Erinnern Sie sich an das Autokennzeichen?«
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?« Silke Scholl schaute Raupach belustigt an.
»Wir werden das überprüfen«, sagte Heide und maß die Malerin mit einem abschätzigen Blick. Raupach besaß Geduld, das musste sie ihm lassen. »Hier ist nichts mehr zu holen, Klemens. Wo bleibt eigentlich Höttges?«
Heides Assistent verließ gerade die Toilette. Er schob einen Holzkeil unter die Tür, damit sie offen blieb. Man hörte die Spülung. »Frau Hauptkommissarin!«, rief er quer durch den Raum. »Wenn Sie mal kommen möchten?«
An der Tür klebte ein Plakat. Es zeigte einen muskelbepackten Mann, der den Erdball mit einem Vorschlaghammer bearbeitete. Barbarossa stand in eckigen Buchstaben darüber. Als Raupach näher heranging, konnte er die klein gedruckten Zeilen unter dem Bild lesen. Es handelte sich um die Ankündigung eines Rockkonzerts, das vor mehr als einem Jahr stattgefunden hatte. Die Gruppe bestand aus fünf Männern, ihre Namen waren nebeneinander abgedruckt. Ray Lübben, las Raupach, es war der letzte Name in der Reihe. Davor stand Ronny Materlink.
Jef Braq war der einzige Name der drei verbliebenen, der im Telefonbuch stand. Chris Curtis und Gunter Aalund waren nicht verzeichnet. Vielleicht handelte es sich bei den Namen um Pseudonyme. Oder sie hatten
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