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Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)

Titel: Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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und der Verhärtung, der Erosion und des Zerfalls. Jedes Werk wirkte wie ein Auszug der Erdgeschichte.
    Er blätterte in einem Ausstellungskatalog. Die Bilder bestanden aus Aschepigmenten, die aus Braunkohle gewonnen waren. Manche Stellen waren mit Kunstharz überzogen, bei anderen war die Farbkruste weggekratzt, um darunterliegende Schichten zum Vorschein zu bringen. Man war versucht, diese künstlich erzeugte Erde, ihre aufgeplatzte, rissige Oberfläche, mit den Fingern zu berühren. Die Farbtöne, ein Braun in zahlreichen Schattierungen, waren warm und intensiv, aber auf eine andere Art als bei den grellen Sonnenuntergängen des Fernsehmalers. Raupach gefielen die Bilder, obwohl sie abstrakt waren. So etwas brächte er nie im Leben zustande. Dafür fehlte ihm das Wissen um all die Materialien, die über Tubenfarbe aus dem Kunsthandel hinausgingen. Und der Mut zur freien Komposition.
    Heide stimmte ihm zu. »Wenn du mal so weit bist, kannst du deinen Abschied nehmen. Diese Frau hat was drauf.«
    »Leider verkauft sie nichts.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Die Bilder, die in diesem Katalog abgebildet sind.« Er wies auf das Buch. »Sie befinden sich alle in diesem Raum. Nach einer erfolgreichen Ausstellung sollten zumindest einige davon nicht mehr hier sein.«
    »Seid ihr von der Kunstpolizei?«
    Silke Scholl sah angegriffen aus. Sie hatte die Nacht durchgearbeitet. Jetzt rauchte sie an ihrem großen Ateliertisch eine von Raupachs Zigaretten und versuchte sich darüber klar zu werden, welche Bedrohung drei Bullen darstellten, die sich am Samstagmittag über ihre Bilder unterhielten. Sie trug einen wattierten Overall, der ein eigenes Kunstwerk darstellte, übersät mit Flecken in allen erdenklichen Farben und an einigen Stellen so steif wie die Schale eines Krustentiers. Auf den ersten Blick war sie Raupach sympathisch. Sie mochte Ende zwanzig sein und hatte ein gewinnendes, etwas spöttisches Lächeln. Die Kopfhaut unter ihrer Kurzhaarfrisur war dauernd in Bewegung, und die Falten in ihrem Gesicht unterstrichen, was in ihrem Inneren vorging. Silke Scholl fühlte sich gestört und zugleich geschmeichelt. Sie war müde, aber ihr Interesse war geweckt.
    Das nimmt uns für die Menschen ein, dachte Raupach. Wenn sie zeigen, was in ihnen vorgeht, weil sie gar nicht anders können. Diese Frau malte sich selbst. Ihre Bilder waren Modellierungen, die an die Erde erinnerten. Doch im Grunde stellten sie das Wesen ihrer Schöpferin dar. Nur die Augen waren anders. Silke Scholls Augen waren voller Misstrauen. Das lag nicht an ihrer Übernächtigung oder an der Tatsache, dass sie Polizisten im Haus hatte. Dieses Misstrauen saß so tief wie eine Erzader.
    Höttges hatte sich neben ihr auf einem wackeligen alten Drehstuhl niedergelassen und bibberte. Die Fabrikhalle war unbeheizt.
    »Verschaffen Sie sich Bewegung«, scheuchte Heide ihren Assistenten auf. »Na los, schauen Sie sich um! Tun Sie was für Ihre Bildung.«
    Höttges bedauerte vieles. Seine Berufswahl. Die Jahreszeit. Sein Schicksal, das ihn der Frau Hauptkommissarin zugeführt hatte. Er stemmte sich an der Tischkante hoch und stieß gegen einen Bilderrahmen. Heide gab ihm einen Wink, vorsichtiger zu sein, worauf sich Höttges zwischen zwei Gemälden hindurchwand und schlurfend seinen Rundgang begann.
    »Ihre Bilder sind beeindruckend. Warm und zugleich … kraftvoll«, sagte Raupach.
    Silke Scholl schöpfte Verdacht. Respekt für ihre Bilder war etwas, was sie selten erfuhr. »Ich habe doch schon alles erzählt. Ray war eine Zufallsbekanntschaft. Ich kannte ihn nur flüchtig.«
    »Sie hatten doch eine Beziehung«, wandte Heide ein.
    Die Frau lachte kehlig. »Er wohnte hier, falls Sie das meinen. Seine Sachen stehen dort drüben.«
    Raimund Lübbens Habseligkeiten passten in ein paar Umzugskartons und eine große Sporttasche. Grabner hatte alles registriert und dann versiegelt. Auf der Liste, die Heide von ihm erhalten hatte, fand sich nichts, was eine nähere Untersuchung wert war. Kein Adressbuch oder Kalender, keine persönlichen Unterlagen oder aufschlussreichen Fotos, nicht einmal Kontoauszüge oder Versicherungspolicen. Nur Kleidung, eine Stereoanlage und jede Menge CDs. Lübben hatte ein unabhängiges Leben geführt ohne bürgerliche Sicherheiten. In gewisser Weise war das beneidenswert, aber auch traurig, wenn man bedachte, wie schmal und unpersönlich sein Vermächtnis war.
    »Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten am Wochenende«, sagte Raupach.

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