Der Vierte Tag
liest wahrscheinlich zu wenig diesbezügliche Fachliteratur. Was auch für uns, seine Geiseln, ein deutlich erhöhtes Risiko bedeutet, weil es seine Reaktionen unberechenbar macht. Und das führt mich erneut zu der Frage, ob es hier wirklich um eine Million Euro geht.
"Vielleicht will er eine Netzhaut-Transplantation?" spekuliert Renate leise. "Er hat das bei der Kasse beantragt, aber die wollen die Kosten nicht übernehmen. Und nun will er die Transplantation erzwingen."
"Blödsinn. Es gibt keine Netzhauttransplantation!" flüstert Zentis aufgebracht.
Wir stehen, vielleicht ein menschlicher Urinstinkt, in der Nähe der Personalküche beisammen. Der Geiselnehmer sitzt, an die Wand gelehnt, auf der anderen Seite der Station, streichelt seinen Hund und wirkt etwas müde.
"Das meine ich ja!" Renate lässt sich nicht beirren. "Deshalb kann die Kasse auch beim besten Willen nicht die Kosten übernehmen. Und das ist jetzt unser Problem."
Zentis ist nicht zu überzeugen: "Wäre dann nicht ein Überfall bei den Kollegen auf der Augenstation logischer gewesen?"
"Vorausgesetzt, dass Geiselnehmer logisch handeln", antwortet Renate spitz.
Ich schalte mich ein: "Aber er gibt doch nicht einmal mehr vor, blind zu sein."
"Könnte ein Trick sein", meint Zentis. "Außerdem hat er jetzt seine schwarze Brille wieder auf."
"Und warum, wenn er uns nicht beobachten wollte, hat er sonst die Klotür offen gelassen?" frage ich.
"Um unser Leiden zu erhöhen, um uns weiter zu demütigen. Auf diese Weise macht man Geiseln gefügig", doziert Psychologie-Spezialist Zentis und scheint es ernst zu meinen.
"Vielleicht ist er Exhibitionist", flicht Schwester Käthe ihre psychologische Sicht der Dinge ein.
"Auf jeden Fall Stinkibitionist", sage ich.
"Ganz wie sein Hund", stimmt Renate zu.
"Oder umgekehrt", kann ich mir nicht verkneifen.
Im Fernsehen läuft jetzt das normale Abendprogramm. Quizsendungen, Singsang-Wettbewerbe und Krankenhaus- oder Polizeiserien. Man kann Euromillionär, Superstar oder wenigstens Gewinner eines schicken Autos werden. Durch die Fenster fällt noch Tageslicht. Warum hat unser Geiselnehmer nicht die Sichtschutzblenden heruntergelassen? Hat er noch nie etwas von Scharfschützen gehört? Ich schon, entsprechend vorsichtig nähere ich mich dem Fenster, das auf die Straße vor der Klinik geht. Mitte Juli ist es noch hell genug für Fernsehreportagen, aber im Moment gibt es nichts zu berichten. Ich beobachte, wie die verschiedenen Reporterteams für die Nacht Scheinwerfer aufbauen. Es könnte ja was Tolles passieren, eine Leiche aus dem Fenster geworfen werden zum Beispiel. Das will man nicht versäumen.
Langeweile macht sich breit. Deshalb und aus jahrelanger Routine machen wir eine Art Abendvisite, wieder mit unserem Geiselnehmer als interessiertem Beobachter.
Das EKG bei Herrn Sauerbier zeigt unverändert einen Normalbefund, am Monitor keine Rhythmusstörungen. Käthe macht einen Blutzucker-Schnelltest.
"Wie hoch, Schwester?" will Sauerbier wissen.
Ist der Blutzucker zu hoch, wird er uns und unsere Anweisung, das Stück Erdbeertorte zu essen, verantwortlich machen. Ist er normal, wird er damit auch zukünftigen Kuchengenuss rechtfertigen. Wir messen einen Normalwert.
"Geht so", ziehe ich mich aus der Affäre, "heute aber keine Torte mehr."
Klar, dass Herr Sauerbier noch jede Menge Fragen zur "Patienteninformation Linksherzkatheter" hat.
"Haben Sie denn eine Herzchirurgie im Haus?"
"Nein. Brauchen Sie auch nicht für einen normalen Herzkatheter."
Sauerbier hält uns den Aufklärungsbogen vor die Nase.
"Hier sind aber viele Komplikationen aufgeführt. Schlaganfall, Gefäßverletzung...Vielleicht können Sie auch den Katheter nicht wieder herausbekommen. Das habe ich mir selbst überlegt!"
Dann liest er vor, was ich schon immer für fragwürdig hielt. Ermöglichen diese ausgefeilten Aufklärungsbögen dem Patienten wirklich eine vernünftige Abwägung, oder wollen sich hier nur Krankenhausjuristen absichern? Wenn ich schlecht drauf oder unter Zeitdruck bin, kann ich mit diesen Vordrucken ein Aufklärungsgespräch jederzeit so steuern, dass der Patient auch eine lebenswichtige Operation entsetzt ablehnt. Und jede Menge Risiken sind überhaupt nicht erwähnt, zum Beispiel weist kein Aufklärungsbogen auf die Gefahr einer Geiselnahme hin.
Ich gebe meine Standartantwort: "Das ganze Leben ist ein Abwägen von Risiken, Herr Sauerbier. Schon wenn Sie morgens in die U-Bahn steigen, wägen Sie im Grunde das
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