Der Vierte Tag
gewesen, hätte die anderen Pharmawerte mitgezogen. Man wisse nicht genau, auf was für ein Produkt von Alpha Pharmaceutics die Anleger spekulieren, erwarte aber allgemein lukrative Entwicklungen in diesem Segment. Sehr wahrscheinlich gehe es um den Sektor Lifestyl-Pharmazie, beschließt der Abiturient seine Analyse. Da wird er recht haben, denn die Pharmamultis und ihre Aktionäre haben längst erkannt, dass nicht mit der weltweiten Bekämpfung von AIDS oder Tbc das große Geschäft zu machen ist, sondern mit den Folgen unseres Lebensstils.
Das Telefon schrillt. Wir zucken zusammen. Hat auch die Polizei erst einmal Tagesschau geguckt? Jedenfalls meldet sie sich unmittelbar nach dem Wetterbericht, der eine warme Sommernacht und für morgen einen weiteren heißen Tag voller Sonnenschein und Badefreuden vorausgesagt hat.
Wiederum ist es Renate, die den Anruf entgegen nehmen soll.
"Sie akzeptieren Ihre Forderung, eine Million Euro. Aber die Polizei kann das Geld heute Abend nicht mehr beschaffen, die Banken haben geschlossen."
Wahrscheinlich die übliche Hinhalte- und Zermürbungstaktik. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass die Polizei tatsächlich zu blöd ist, um diese Zeit eine Million Euro zu besorgen. Im servicefreundlichen Deutschland haben die Banken die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten nicht mitgemacht, schließlich sollen die lästigen Kunden ihre Bankgeschäfte an den Automaten abwickeln. Dort freilich kriegt man keine Million.
"Aber die Polizei fordert weiterhin, dass Sie wenigstens der Verlegung der Patienten zustimmen."
"Kommt nicht in Frage. Sagen Sie denen, es ist ein ausreichendes Zeichen meines guten Willens, dass alle Patienten und Geiseln trotz ihrer durchsichtigen Hinhaltetaktik noch am Leben sind. Aber das könnte sich schnell ändern, wenn das Geld nicht pünktlich morgen früh hier ist."
Renate gibt das weiter, versichert, dass Patienten und Geiseln tatsächlich wohlauf sind, und legt auf.
Also mindestens noch eine Nacht!
Nacht eins
"Oberste Priorität genießt das Wohlergehen der Geiseln!"
Der russische Präsident Putin am 25.10.2002 vor dem Giftgasangriff seiner „Spezialkräfte“ auf das von Terroristen besetzte Musicaltheater in Moskau, dem 129 Geiseln zum Opfer fielen.
Klar, ich hätte das mit der Million viel raffinierter angestellt. Soll man auf der Flucht mit einem Sack voll Bargeld durch die Gegend rennen? Zumal die Scheine sicher präpariert sind, egal, was die Polizei behauptet, und ungeachtet des Risikos für uns Geiseln durch welchen Polizeitrick auch immer. Ich hätte das vorher organisiert, zum Beispiel mit Hilfe eines kundenfreundlichen Kreditinstituts auf den Cayman Islands, wo man lieber mit einem zukünftig solventen Geschäftsfreund als mit ausländischer Polizei zusammenarbeitet.
Also: Das Geld hätte man auf mein Konto dort zu überweisen gehabt, die Gutschrift auf mein Konto hätte mir die Bank durch einen kodierten Anruf bestätigt. Dann wäre ich hier irgendwie verschwunden, durch den Hinterausgang, im Arztkittel oder in Polizeiuniform, am besten als Ambulanzfahrer mit Blaulicht, direkt zum Flughafen. Den Geiseln hätte ich irgendeinen Kasten hinterlassen und ihnen erklärt, das sei Sprengstoff mit einem Bewegungsmelder, also schön still sitzen bleiben für zwei Stunden oder drei, dann würde sich die Höllenmaschine von selbst abschalten, und sie wären frei. Natürlich würden auch bei diesem Vorgehen Schwierigkeiten auftreten, zum Beispiel wäre die Zeitdifferenz zur Karibik zu beachten, und die Buchung verschiedener Flüge auf verschiedene Namen ist heutzutage auch nicht mehr so einfach, aber trotzdem: Ich glaube, ich hätte das besser gemacht.
Hätte ich mir auch die Intensivstation ausgesucht? Wie gesagt, die Wahl bietet einige Vorteile: Der Strom kann nicht abgestellt werden, keine Blendgranaten, kein Gas kann zum Einsatz kommen. Aber vielleicht wäre mir etwas Besseres eingefallen. Zum Beispiel ein Tierheim. Zum einen sind Hunde, Katzen, Affen und Meerschweinchen bestimmt die geduldigeren Geiseln und versuchen keine Tricks. Wichtiger noch ist die öffentliche Meinung. Die nimmt, wenn auch für einen Tag schmollend, bei einer Befreiungsaktion schon mal den Tod von ein paar Menschen in Kauf, Berufsrisiko als Geisel sozusagen, würde aber nie verzeihen, wenn in Deutschland auch nur ein einziger Schäferhund einer Polizeiaktion zum Opfer fallen würde.
Alles in allem hat unser Geiselnehmer meines Erachtens die Sache schlampig vorbereitet,
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