Michael mit seiner EDV-Begeisterung war einer der ersten ISDN-Kunden der Telekom. Schon vor Jahren hat er mir stolz vorgeführt, wie er gleichzeitig telefonieren, faxen und E-Mails bekommen oder verschicken kann.
Dies erkläre ich Herrn Fröhlich, und mit ihm im Schlepptau gehe ich hinüber zu unserem Computerterminal, logge mich ein und rufe meine E-Mails auf. Das sind eine Menge, wie ich feststelle. Aber die letzte, vor zwei Minuten eingegangen, ist von
[email protected], Text: "Hallo Alter, komm doch mal rüber ins Zimmer 5."
Das ist einfach zu übersetzen. Michael möchte sich, warum auch immer, online mit mir unterhalten, und bittet mich deshalb in den Chatroom Nummer 5. Da er denselben Provider hat wie ich, ist Chatroom Nummer 5 leicht zu finden. Nummer 5, "gaytalk", ist ziemlich voll, "234 user online", verrät der Zähler. Ich logge mich ein, nun sind wir 235. Mindestens zwei davon sind nicht schwul.
"Hallo Boris, hier ist Dr. Cribben."
Bin ich online bei den anonymen Alkoholikern? Aus allen Ecken der Republik und des Internets kommt sofort ein freundliches "Hallo, Dr. Cribben", zu mir zurück. Offenbar ist der Gemeinde der Gesprächsstoff ausgegangen, und man ist froh über jeden Neuankömmling im Chatroom "gaytalk".
Die schwierigere Frage ist, wie ich in dieser Gemeinde Michael identifizieren soll, den wir manchmal Boris nennen, weil er seiner Meinung nach mindestens so gut Tennis spielt wie Boris Becker zu seinen besten Zeiten.
Ich nehme einen neuen Anlauf.
"Boris, warum willst du dich nicht mit Dr. Cribben am Telefon unterhalten?"
"Wer telefoniert denn heutzutage noch?"
"Das Telefon ist das Herrschaftsinstrument der heterosexuellen Unterdrückerklasse!"
"Ich dachte, Dr. Cribben wollte vielleicht nicht, dass Ede und seine Freunde zuhören. Dr. Cribben wird bekannt sein, dass heutzutage auch Handys problemlos abgehört werden können. In Dr. Cribbens Situation sind die Ziele von Ede und seinen Freunden häufig nicht mit den eigenen Zielen identisch."
Klar, dass die letzte Antwort die von Michael ist. Er spielt darauf an, dass sich Geiseln nach einiger Zeit mehr Sorgen um die Polizei und deren mögliche Pläne als um die Absichten der Geiselnehmer macht. Seit der berühmten Geiselnahme in Stockholm 1973 nennt man das "Stockholm-Syndrom".
Inzwischen habe ich entdeckt, dass links in der Leiste "Chatroom" ohnehin vor jeder Bemerkung der mehr oder weniger phantasievolle Chatroomname ihres Absenders steht. Also brauche ich mich jetzt nur noch auf die Antworten von Boris zu konzentrieren.
Ich tippe: "Vielen Dank, dass du an Ede gedacht hast."
"Wer ist Ede?" wollen sofort unisono "Bibi", "Schwanzlover 1" und "Johann Wolfgang von" wissen.
Es genügt, wenn Michael und ich es wissen. "Ede" hieß eigentlich Eduard Martinetschki, war Polizist und unser erster gemeinsamer Patient, als wir beide als Jungärzte unser anstudiertes Wissen und grenzenloses Unwissen endlich an richtigen Menschen ausprobieren durften. Damals war die Diskussion, ob politisch bewusste Mediziner Polizisten überhaupt behandeln sollten, schon lange nicht mehr aktuell. Wir hatten uns Mühe gegeben, in jedem Lehrbuch nachgeschlagen, jeden Oberarzt zu Rate gezogen. Trotzdem war Ede gestorben. Ede war also nicht nur unser erster Patient, sondern auch unser erster Toter. Kein optimaler Einstieg in den Beruf. Jedes Jahr treffen Michael und ich uns an seinem Todestag auf ein Bier - oder auch drei.
Ich tippe weiter: "Es geht um etwas anderes, Boris. Ede und seine Freunde sind nicht das Problem. Im Moment wenigstens nicht. In diesem Zimmer ist es mir allerdings etwas zu unruhig. Ich rufe dich doch an."
Ich beende die Verbindung ins Internet. Ohne Frage hat dieser pythische Austausch Herrn Fröhlich zunehmend verunsichert, er hätte ihn wahrscheinlich sowieso bald unterbunden. Dagegen erlaubt er wieder das Handy, unverändert unter der Bedingung, dass es zum Mithören auf laut gestellt ist.
"Habt ihr keine anderen Sorgen?" war Michaels ziemlich rüde Antwort, nachdem ich ihm über Renates Handy erklärt habe, worum es geht. Renate nimmt mir das Handy aus der Hand. Auch sie kennt Michael noch aus seiner Klinikzeit.
"Michael Thiel, erzähl du uns nicht, worüber wir uns Sorgen machen sollen! Wir sind Geiseln, verstehst du? Du sitzt mit deinem Hintern im Trocknen, aber neben uns steht ein Geiselnehmer. Ein trauriger Mann, weißt du, aber auch ein sehr zorniger Mann. Ein Mann, der wohl nicht mehr viel zu verlieren hat. Also verrate