Der Vierte Tag
die Tür, Zentimeter um Zentimeter. Ein wenig Erschütterung halten die Sprengsätze aus, das haben sie gestern beim Gerüttel von Professor Weißkopf und seinem Rollkommando bewiesen. Oder hat Fröhlich sie vorhin etwa empfindlicher eingestellt? Jedenfalls blinken sie nicht wie vergangene Nacht. Ist Fröhlich schlampig geworden? Die Päckchen wackeln jetzt ein wenig, sonst passiert vorerst nichts. Nun klopft mir das Herz wirklich im Hals, aber regelmäßig, kein Stolpern mehr. Der aufgeregte Sinusknoten gibt einen so schnellen Takt vor, dass Extraschläge keine Chance haben.
Fast bin ich draußen, da drückt sich von hinten ein Pistolenlauf gegen mich. Pech gehabt. Aber Moment: ein Pistolenlauf in Kniehöhe? Behutsam drehe ich mich um, habe schon die Hände gehoben. Es ist nur Stinki mit seiner schwarzen Schäferhundnase, der mich auf eine kleine Pinkelrunde begleiten will.
"Ich glaube, du bleibst lieber hier. Sonst dreht dein Herrchen durch. Und das wäre nicht gut für Renate und Käthe, verstehst du?"
Stinki kapiert, dass er nicht mitkommen kann, zieht den Schwanz ein und trottet zurück zu Herrn Fröhlich.
Dunkelheit in den Hygieneschleusen und auf dem Flur davor. Ich weiß, wo der Lichtschalter ist, aber wegen der Glastür taste ich mich im Dunkeln weiter. Plötzlich erfasst mich der Lichtkegel einer starken Taschenlampe, aus Reflex hebe ich schon wieder die Hände und bleibe stehen. Eine zweite Taschenlampe leuchtet auf, wird aber nicht auf mich gerichtet. Ich erkenne jetzt vermummte Gestalten am Ende des Flurs, gute zehn Meter entfernt, ihre automatischen Gewehre zielen auf mich. Mit Helm und integriertem Gesichtsschutz erinnern mich die Vermummten an alte Comics, an "Invasion vom Mars" oder "Perry Rhodan rettet die Welt".
Ich habe mich nach dem Aufleuchten der ersten Taschenlampe noch nicht wieder bewegt, eine Hand ist weiterhin in der Luft, mit der anderen stütze ich mich an der Wand. Der eine Marsmensch winkt mir, zu ihnen zu kommen, der andere behält mich im Visier seines Gewehrs.
Ich gehe nicht weiter in ihre Richtung. Es hat nichts mit Renate und Käthe zu tun, mit dem Ritter, der die beiden Jungfrauen nicht im Stich lassen darf, glaube ich. Es hat mit Angst zu tun. Unglaublich, aber nach nur zwei Tagen Geiselhaft mit dem Elektriker Fröhlich scheint mir die Intensivstation ein sichererer Ort als diese Welt von Marsianern! Oder vielleicht hat es doch mit Renate und Käthe und dem Ritter mit der silbernen Rüstung zu tun, mit Erziehung und damit, dass ich als Jugendlicher die falschen Bücher gelesen habe. Jedenfalls drehe ich mich langsam um, hebe wieder beide Hände über den Kopf und tappe zurück in die Geborgenheit.
Stinki freut sich offensichtlich über meine Heimkehr, will mir wieder das Gesicht abschlabbern. Auch sonst scheint alles unverändert - oder liegt der Kopf von Herrn Fröhlich jetzt zur anderen Seite? Jedenfalls schnarcht er weiter herzhaft, Renate ebenso.
Falls ich dann noch lebe, werde ich nach dem Ende unserer Geiselhaft meine Rückkehr nicht mehr verstehen. Zumindest werde ich völlig scheitern, dies anderen zu erklären. Am besten eignet sich vermutlich die Version vom edlen Ritter.
Ich setze mich auf den Boden und warte auf den Sonnenaufgang, auf den dritten Tag. Der dritte Tag! Ich kenne keine Statistik zu Geiselnahmen, aber ich denke, es wird so oder so der letzte sein. Und das macht mir Sorgen. Veränderungen haben mir schon immer Sorgen gemacht.
Tag drei
"you intend to take prisoners?"
ungläubige Frage von Präsident Siad Barre an den deutschen Sondergesandten, den Staatsminister Hans Jürgen Wischnewski, am 17.10.1977 vor der Erstürmung der Lufthansa-Maschine Landshut durch die GSG 9 auf dem Flughafen von Mogadischu.
Noch vorsichtig färbt sich der Himmel rot, kündigt sich der unmittelbar bevorstehende Sonnenaufgang an. Jeden Tag dasselbe, und jeden Tag ein Wunder. In ein paar Millionen Jahren wird sich diese Sonne gewaltig aufblähen, wird unsere Erde verschlingen. Aber bis dahin würde ich am liebsten jeden Sonnenaufgang genießen. Fast möchte ich die anderen, auch Herrn Fröhlich, aufwecken, um das Schauspiel gemeinsam zu beobachten.
So unauffällig, wie Käthe geschlafen hat, erwacht sie, und so steht sie auch auf. Es ist kaum zu hören, wie sie in die Küche geht, die Kaffeemaschine anwirft, Kaffee macht.
"Einen weiteren guten Morgen in unserer exklusiven Kommune", sagt sie lächelnd und stellt mir einen herrlich duftenden Kaffee vor die Nase.
Zwei
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