Der Vierte Tag
ein Recht, wenigstens den Urheber zu erfahren, wenn ihm dieser Satz schon so gefällt.
"Existentialismus. Den Begriff habe ich gehört. Da würde ich gerne mehr drüber wissen."
"Wir haben die ganze Nacht, aber besonders firm bin ich in Philosophie auch nicht."
Fröhlich zuckt mit den Schultern.
"Ein andermal vielleicht."
Das dürfte eine richtige Entscheidung sein. Führen doch philosophische Gespräche auch unter besseren Voraussetzungen nur selten zu einer befriedigenden Lösung. Erst recht nicht bei Kierkegaard mit seiner ewigen Schwermut und unterdrückten Liebe!
Als ich das nächste Mal aufwache, hat mich etwas unangenehm Feuchtes aus dem Schlaf geholt. So muss es unseren Patienten gehen, wenn die Nachtschwester, den Feierabend vor Augen, sie vor Sonnenaufgang fröhlich mit einem nassen Waschlappen bearbeitet. Aber es ist keine eilige Nachtschwester, es ist Stinki, der mir das Gesicht ableckt.
Kaum wach, spüre ich noch etwas weit Unangenehmeres als Stinkis feuchte Schlabberzunge. Etwas, das mir die Kehle abschnürt, kurz wieder locker lässt, nur um gleich noch stärker zuzudrücken. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn, ich ringe nach Luft, bin dabei zu ersticken. Bin ich natürlich nicht, wie ich nicht müde werde, meinen Patienten bei ähnlicher Symptomatik zu erklären.
"Das sind Extraschläge aus dem Herzvorhof, sogenannte supraventrikuläre Extrasystolen, unangenehm, aber in der Regel vollkommen harmlos."
Und wenn nicht? Wenn diese Rhythmusstörung doch aus der Herzkammer kommt? Gleich in eine lebensbedrohliche Kammertachykardie degeneriert? Meine Jahre als Raucher fallen mir ein, der kalte Schweiß nimmt zu.
Ich pumpe alle verfügbare Luft in den Brustraum und presse wie zu einer komplizierten Zwillingsgeburt, jedenfalls so, wie ich mir eine Zwillingsgeburt vorstelle. Für einen Moment beruhigt sich der Herzschlag, gleich darauf geht es aber wieder los. Mit schief gehaltenem Kopf mustern mich Stinkis besorgte Hundeaugen, er spürt wohl, dass etwas nicht in Ordnung ist. Hat er mich vielleicht sogar deshalb aufgeweckt?
"Wenn tief Luftholen und Pressen nicht ausreicht, massieren Sie ihre Halsschlagader, oder schließen Sie die Augen, und drücken Sie kräftig auf die Augenlider. Dann sollte die Rhythmusstörung eigentlich aufhören."
Tut sie aber nicht. Soll ich Käthe wecken, oder Renate? Wenn, besser beide. Ich will nicht als hirntoter Spätreanimierter an unseren Schläuchen landen mit der täglich erneuten Diskussion, wann man die lebenserhaltenden Systeme abstellen soll. Würde Celine ebenso um mich kämpfen wie Herr Fröhlich um seine Frau?
Blödsinn, natürlich ist das eine harmlose Vorhofstörung, habe ich schließlich nicht zum erstenmal. Ich werde mich nicht lächerlich machen und die beiden Schwestern wecken.
"Wichtig ist noch: nicht liegen bleiben, wenn es so stolpert. Oft stecken Stresshormone dahinter. Also ordentlich herumlaufen, dass die sich abbauen!"
Vorsichtig stehe ich auf. Endlich hat der Schlaf auch Herrn Fröhlich und den Instantkaffee besiegt, schnarcht er, seine gereinigte Pistole in der Hand, mit Renate um die Wette. Ich mache ein paar Kniebeugen und versuche mit der Kombination von leisem Hüsteln, körperlicher Aktivität und Massieren der Augenlider, die Rhythmusstörung endlich loszuwerden. Es klappt nicht ganz, aber die Extrasystolen werden langsam weniger. Auf Socken schleiche ich an den Kühlschrank in der Teeküche und hole mir ein paar Eiswürfel aus dem Eisfach, um sie langsam zu lutschen und das kalte Wasser die Speiseröhre hinablaufen zu lassen. Rezept Nummer vier bei Rhythmusstörungen aus dem Vorhof.
Herr Fröhlich schnarcht unverändert regelmäßig, Stinki beobachtet mich nur, gibt keinen Laut. Es wäre so einfach: Ich nehme Fröhlich die Pistole aus der Hand, ziehe ihm kräftig eins über den Schädel: Ende der Geiselveranstaltung. Die Frage ist nur, ob es wirklich so einfach wäre. Würde mich Stinki so nahe an sein Herrchen heranlassen? Würde ich tatsächlich kräftig genug zuschlagen, dass Fröhlich keine Chance bliebe, seinen Sprengstoff zu zünden? Müsste ich nicht bereit sein, ihn gegebenenfalls zu töten? Bin ich dazu bereit?
Die Alternative bedeutet, Fröhlich den Spezialisten zu überlassen, aber trotzdem die Gunst der Stunde zu nutzen. Soll ich Renate und Käthe wecken? Nein. Zu groß die Gefahr, entscheide ich, Fröhlich gleich mit zu wecken.
Vorsichtig drücke ich die Klinke runter, alles bleibt ruhig. Dann öffne ich ganz langsam
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