Der Vierte Tag
mitgebracht. Haben Sie nicht bemerkt, wie er sich immer unter ihr Bett gelegt hat? Er war ständig nervös, als Ingrid zum ersten Test mit diesem MS 234 eine ganze Woche weg war. Außerdem hat er sich doch gut gemacht als Blindenhund, oder?"
"Eine ganze Woche?"
"Na ja", schränkt Herr Fröhlich ein, "vier Tage immerhin. Mir kam es vor wie eine ganze Woche."
Das mag sein, aber auch vier Tage sind mindesten ein Tag zuviel! Für beide Tests in der Tagesklinik waren jeweils achtundvierzig Stunden stationärer Aufenthalt vorgesehen, also maximal drei Tage!
Was hat Ingrid Fröhlich am vierten Tag getrieben? Einfach mal einen Tag ausgespannt, fern von den Sorgen zu Hause? Doch noch schnell ihre Schwester besucht? Oder gar einen Geliebten? Was auch immer es gewesen war, sie hat es ihrem Mann nicht erzählt, sondern einfach einen Testtag dazu erfunden. Es ist wohl kaum an mir, noch dazu als seine Geisel, Herrn Fröhlich auf den fehlenden Tag aufmerksam zu machen. Draußen hat inzwischen der Regen aufgehört. Ich beobachte fasziniert, wie die Tropfen die Scheiben hinunterlaufen, und versuche vorherzusagen, welche Tropfen sich auf ihrem Weg nach unten verbinden werden. Ein Problem aus der Chaostheorie. Vor ein paar Jahren habe ich mich mit der Anwendung der Chaostheorie auf Herzrhythmusstörungen beschäftigt, viel herausgekommen ist dabei nicht.
Unser Geiselnehmer holt tief Luft und fragt mit einem Seufzer: "Was hätten Sie denn gemacht?"
Es ist klar, er meint nicht, ob ich einen Hund alleine zu Hause gelassen oder in einer Tierpension abgegeben hätte. Es geht um den Versuch, das Leben seiner Frau zu retten, um das Risiko, das uns mit einschließt. Letztlich will er das Gleiche wie wir alle, er verlangt nach Absolution, nach Erlösung. "Und erlöse uns von dem Übel" - nicht nur von dem, das uns von außen droht, auch von den bösen Geistern in uns selbst. Von denen, die wir gerufen haben, und von denen, die ohne unseren Ruf gekommen sind.
Ich beantworte seine Frage nicht, frage ihn stattdessen: "Soll ich mal in der Charité anrufen?"
Herr Fröhlich nickt matt, verspricht sich offensichtlich keine positiven Neuigkeiten.
Der Polizist am anderen Ende der Leitung, gewöhnt an den Kontakt mit Schwester Käthe, zögert einen Moment, fragt mich dann, ob ich Dr. Hoffmann sei.
"Ja. Und nun verbinden Sie mich bitte mit der Charité."
"Einen Moment, bitte."
Aber ich höre, dass ich nicht verbunden werde, nur der Hörer weitergegeben wird.
"Dr. Hoffmann, wie schön. Ich bin Dr. Azul, Psychologe bei der Berliner Polizei. Wie geht es Ihnen?"
"Uns geht es ganz gut, wir sind zurzeit nicht in Gefahr und hätten auch gerne, dass das so bleibt. Und nun möchte ich die Kollegen in der Charité sprechen."
Seine Antwort verrät, dass Dr. Azul verstanden hat, in welchem Stadium aus dem Handbuch für Geiselpsychologie wir uns befinden.
"Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Hoffmann. Hier werden alle Maßnahmen äußerst sorgfältig erwogen, es gibt keine politischen Pressionen. Machen Sie es weiterhin gut. Ich verbinde sie jetzt."
Also gibt es politische Pressionen! Genau, was Geiseln lieben. Die Auskunft aus der Charité klingt auch nicht hoffnungsvoller. Auch nicht, nachdem ich die Kollegen über die eventuelle Überdosierung von MS 234 informiere. Die Ursache für das Leberversagen sei in diesem Stadium sicher ziemlich egal, die Situation weiter sehr kritisch, das könne ich mir wohl denken, und Wunder, na ja, man gäbe sich natürlich weiterhin jede Mühe, aber man habe zunehmende Probleme mit der Blutgerinnung, und so weiter und so fort. Ich lege auf.
Herr Fröhlich schaut mir ins Gesicht, ohne viel Hoffnung, ich hebe die Schultern. Soll ich ihm etwas über Wunder erzählen?
Ich frage dann tatsächlich: "Glauben Sie an Gott?"
Und Herr Fröhlich erstaunt mich.
"Glauben bedeutet, den Verstand zu verlieren, um Gott zu gewinnen."
Wie bitte? Eine weitere Facette unseres Geiselnehmers! Bin ich in ein Kierkegaard-Seminar geraten? Oder hat er tatsächlich den Verstand verloren?
Eine Weile weidet sich Herr Fröhlich an meiner Sprachlosigkeit.
"Keine Angst. Ich bin kein verkappter Philosophiestudent, habe nie eine Universität von innen gesehen. Ich habe diesen Satz mal aufgeschnappt und mir gemerkt, weil er mir gefällt. Ich weiß nicht einmal, von wem er ist."
"Kierkegaard. Existentialismus."
Ich habe mit der Antwort gezögert, wollte nicht den überlegenen Bildungsbürger heraushängen. Dann wieder fand ich, Herr Fröhlich hat
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