Der vierzehnte Stein
Ganze irgendwann, die Morde rücken zeitlich immer dichter zusammen. Das ist beim Dreizack nicht der Fall. Seine Morde sind regelmäßig, geplant, sie geschehen in größeren Abständen. Wie das geduldige Werk eines ganzen Lebens, ohne Hast.«
»Oder ein Werk, das er absichtlich in die Länge zieht, wenn sein Leben sich nach diesem Motiv richtet. Schiltigheim war vielleicht sein letzter Akt. Oder der Pfad in Hull.«
Adamsbergs Gesicht veränderte sich, ein jäher Stich der Verzweiflung, wie jedesmal, wenn er an das Verbrechen am Ottawa River zurückdachte. An seine bis unter die Nägel blutverschmierten Hände. Er stellte seine Tasse ab und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen ans Kopfende des Bettes.
»Was nicht gerade zu meinen Gunsten spricht«, sagte er, indem er seine Hände betrachtete, »das ist die eventuelle Reise dieses Hundertjährigen nach Quebec. Nach Schiltigheim hatte er doch alle Zeit der Welt, um die Falle, in die ich tappen sollte, vorzubereiten. Da kam es doch nicht auf drei Tage an, nicht wahr? Kein Grund, sich in aller Eile über den Ozean zu begeben.«
»Im Gegenteil, eine ideale Möglichkeit«, wandte Retancourt ein. »Die Mordpraxis des Richters paßt nämlich nicht in eine Stadt. Sein Opfer umbringen, es verstecken, einen Sündenbock an den Ort bringen, all das läßt sich in Paris nicht machen. Er hat für seine Taten immer eine ländliche Umgebung gewählt. Kanada bot ihm eine seltene Gelegenheit.«
»Möglich«, sagte Adamsberg, den Blick noch immer auf seine Hände gerichtet.
»Und noch etwas anderes. Die Deterritorialisierung.«
Adamsberg sah seinen Lieutenant an.
»Nun, nennen wir es das Verlassen des Territoriums. Damit verschwinden auch Anhaltspunkte, Gewohnheiten, Reflexe, und herkömmliche Strukturen lösen sich auf. In Paris wäre es doch so gut wie unmöglich gewesen, jemandem weiszumachen, daß ein Kommissar nach seinem gewohnten Weggang aus dem Büro mitten auf der Straße plötzlich von einer mörderischen Raserei erfaßt wird.«
»Neue Umgebung gleich verändertes Wesen und veränderte Handlungsweisen«, bestätigte Adamsberg ziemlich niedergeschlagen.
»In Paris hätte sich niemand Sie als Mörder vorstellen können. Aber dort schon. Der Richter hat die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, und es hat funktioniert. Sie haben es in der Akte der GRC gelesen: ›Freisetzung aller Triebe‹. Ein hervorragender Plan, unter der Bedingung allerdings, Sie allein im Wald anzutreffen und in die Falle locken zu können.«
»Er kannte mich sehr gut, von Kindheit an bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr. Er konnte also wissen, daß ich nachts Spazierengehen würde. Alles ist möglich, aber nichts beweist es. Außerdem hätte jemand ihn von der Reise informieren müssen. Doch an diesen Maulwurf, Lieutenant, glaube ich nicht mehr.«
Retancourt knickte ihre Finger ein und starrte auf ihre kurzen Nägel, als studiere sie einen geheimen Notizblock.
»Ich gebe zu, daß ich damit nicht weitergekommen bin«, sagte sie verärgert. »Ich habe mit jedem gesprochen, bin unsichtbar von Raum zu Raum geschlichen. Doch keiner scheint die Idee zu ertragen, daß Sie dieses Mädchen umgebracht haben könnten. In der Brigade herrscht besorgte, angespannte Stimmung, man spricht nur gedämpft, als wäre alle Aktivität der Mannschaft vorübergehend in Warteposition erstarrt. Glücklicherweise macht Danglard seine Vertretungssache sehr gut und bewahrt Ruhe. Sie zweifeln doch nicht mehr an ihm?«
»Im Gegenteil.«
»Ich gehe jetzt, Kommissar«, sagte Retancourt und packte ihre Thermosflasche wieder ein. »Der Wagen fährt um achtzehn Uhr. Ich werde Ihnen die Weste vorbeibringen lassen.«
»Ich brauche keine.«
»Ich werde sie Ihnen vorbeibringen lassen.«
48
»Großer Gott«, sagte Brézillon, von seiner Friedhofsexkursion noch ziemlich erregt, als sie wieder im Wagen nach Paris saßen. »Achtzig Kilo Sand. Er hatte recht, verdammt.«
»Das kommt häufig bei ihm vor«, kommentierte Mordent.
»Das ändert alles«, fuhr Brézillon fort. »Adamsbergs Anklage wird stichhaltig. Ein Kerl, der seinen Tod vortäuscht, ist kein Unschuldslamm. Der Alte sitzt noch immer am Drücker und hat zwölf Morde auf seinem Konto.«
»Wobei er die drei letzten im Alter von dreiundneunzig, fünfundneunzig und neunundneunzig Jahren begangen hätte«, präzisierte Danglard. »Scheint Ihnen das vorstellbar, Monsieur le Divisionnaire? Ein uralter Mann, der eine junge Frau samt ihrem Fahrrad übers Feld
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