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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Vasallen. Ich glaube, Retancourt, daß der Richter sich deshalb in Richelieu niedergelassen hat, weil diese Ärztin in der Stadt praktizierte.«
    »Und daß sein Tod dort geplant wurde?«
    »Ich glaube. Geben Sie die Information an Danglard weiter.«
    »Warum tun Sie’s nicht selbst?«
    »Das regt ihn nur auf, Lieutenant.«
     
    Keine zehn Minuten später rief Danglard ihn an, mit schroffer Stimme.
    »Wenn ich recht verstehe, Kommissar, ist es Ihnen gelungen, den Richter wieder zum Leben zu erwecken? Nichts weniger?«
    »Ich glaube schon, Danglard. Wir jagen keinem Toten mehr hinterher.«
    »Sondern einem neunundneunzig Jahre alten Greis. Einem Hundertjährigen, Kommissar.«
    »Darüber bin ich mir im klaren.«
    »Und das ist genauso abwegig. Neunundneunzig Jahre, das kommt bei einem Mann selten vor.«
    »In meinem Dorf gab’s einen.«
    »Der rüstig war?«
    »Nicht wirklich, nein«, gab Adamsberg zu.
    »Verstehen Sie doch«, fuhr Danglard geduldig fort, »ein uralter Mann, der eine Frau überfällt, sie mit einem Dreizack tötet und sie und ihr Fahrrad übers Feld schleppt, so was ist absolut unwahrscheinlich.«
    »So steht’s nun mal in den Märchen, dafür kann ich nichts. Der Richter besaß eine außergewöhnliche Kraft.«
    »Besaß, Kommissar. Ein neunundneunzig Jahre alter Kerl besitzt keine außergewöhnliche Kraft. Und ein hundertjähriger Mörder kann nicht existieren und auch nicht agieren.«
    »Den Teufel kümmert’s nicht, wie alt er ist. Ich habe die Absicht, die Exhumierung zu beantragen.«
    »Großer Gott, so weit sind Sie jetzt schon?«
    »Ja.«
    »Dann rechnen Sie nicht mit mir. Sie gehen zu weit, Sie dringen in Welten vor, in die ich Ihnen nicht folgen will.«
    »Ich verstehe.«
    »Ich konnte mich ja durchaus für den Schüler erwärmen, erinnern Sie sich, nicht aber für den Untoten oder einen Mördergreis.«
    »Ich werde selbst versuchen, den Antrag zu stellen. Aber wenn der Exhumierungsbescheid in der Brigade eintrifft, dann kommen Sie nach Richelieu, Sie, Retancourt und Mordent.«
    »Nein, ohne mich, Kommissar.«
    »Was auch immer in diesem Grab sein mag, ich möchte, daß Sie es sehen, Danglard. Sie werden dasein.«
    »Ich weiß, was in einem Sarg ist. Dafür muß ich keine Reise unternehmen.«
    »Danglard, Brézillon hat mir Lamproie als Namen gegeben. Sagt Ihnen das irgendwas?«
    »Ja, eine Lamprete, das ist ein Urfisch«, sagte der Capitaine mit einem Lächeln in der Stimme. »Weniger noch als ein Fisch, ein Kieferloser, genauer gesagt. Äußerlich dünn wie ein Aal.«
    »Ach«, sagte Adamsberg enttäuscht und leicht angewidert angesichts der prähistorischen Kreatur im Pinksee.
    »Hat dieser Primitivling irgendwas Besonderes?«
    »Die Lamprete hat keine Zähne. Keine Kiefer. Sie funktioniert wie ein Saugmund, wenn Sie so wollen.«
    Während er auflegte, fragte sich Adamsberg, wie die Wahl des Divisionnaire wohl zu deuten sei. Vielleicht als Anspielung auf einen gewissen Mangel an Raffinesse? Oder etwa auf die Sechs-Wochen-Frist, die er ihm schließlich hatte abringen können – wie ein Saugmund, der jeglichen Gegenwillen anschröpfte? Es sei denn, er wollte ihm signalisieren, daß er ihn für unschuldig hielte, für zahnlos? Daß heißt zinken- und zackenlos, dreizacklos?
    Brézillon von der Anordnung einer Exhumierung des Richters Fulgence zu überzeugen schien ein undurchführbares Unterfangen. Adamsberg konzentrierte sich darum auf die Lamprete und mühte sich, den Divisionnaire auf seine Seite zu ziehen. Mit einer Wortsalve erledigte Brézillon jenes Ohr, das nach dem Tod des Richters dort allein noch im Département Niederrhein leben sollte. Was den verdächtigen Totenschein von Doktor Choisel betraf, war er für ihn nur eine schwache Vermutung.
    »Welcher Tag ist heute?« fragte er plötzlich.
    »Sonntag.«
    »Dienstag, vierzehn Uhr«, verkündete er in einem plötzlichen Sinneswandel, jenem sehr ähnlich, der Adamsberg seine kurze Freiheit verschafft hatte.
    »Retancourt, Mordent und Danglard sollten dann auch vor Ort sein«, hatte der Kommissar gerade noch Zeit zu bitten.
    Behutsam klappte er den Deckel seines Mobiltelefons herunter, um ihm nicht die Flügel zu zerquetschen. Vielleicht fühlte sich der Divisionnaire, seitdem er »seinen«
    Mann freigelassen hatte, gezwungen, der Logik seiner Entscheidungen zu folgen und seine Irrwege bis zu ihrem Ende mitzugehen. Es sei denn, er war durch die Saugkraft der Lamprete angeschröpft worden. Deren Anziehungsrichtung sich aber eines

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