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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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prüfte ihn, neugierig geworden, von beiden Seiten. Ein Dreitagebart, ein schwarzer, lebhafter Blick.
    »Sagen wir, es handelt sich um etwas sehr Persönliches, Monsieur Barlut.«
    Zwei Minuten später saß Adamsberg vor einem Glas Schnaps am Tisch und legte erneut seine Fragen dar.
    »Normalerweise entkork ich die Flasche nicht vorm Abendläuten«, erklärte der Alte, ohne zu antworten. »Aber, nun ja, wenn man so hohen Besuch hat.«
    »Man sagt, Sie seien das Gedächtnis des Ortes.«
    André zwinkerte ihm zu.
    »Wenn ich erzählen würde, was da alles drin ist«, sagte er und drückte seine Mütze auf dem Schädel platt, »das ergäbe ein ganzes Buch. Ein Buch über die menschliche Natur, Kommissar. Was sagen Sie zu diesem Rachenputzer? Nicht zu fruchtig, nein? Das schafft Ordnung im Kopf, glauben Sie mir.«
    »Hervorragend«, bestätigte Adamsberg.
    »Ich mach ihn selbst«, erklärte André stolz. »Das kann nicht schaden.«
    Sechzig Prozent, schätzte Adamsberg. Die Flüssigkeit ätzte ihm den Zahnschmelz weg.
    »Er war beinah zu anständig, der Vater Guillaumond. Er hatte mich als Lehrling angestellt, und wir zwei waren wirklich eine verdammt gute Mannschaft. Sie können mich André nennen.«
    »Waren Sie auch Metallarbeiter?«
    »Aber nein. Ich spreche von der Zeit, als Gérard bereits Gärtner war. Mit der Metallerei war für ihn schon lange Schluß. Seit dem Unfall. Krick, zwei Finger in der Schleifmaschine«, erklärte André mit einer bezeichnenden Geste und schlug sich auf die Hand.
    »Wie das?«
    »Wie ich’s Ihnen sage. Die zwei Finger sind rein in die Maschine. Der Daumen und der kleine Finger. Da hatte er nur noch drei an der rechten Hand, so«, sagte André und streckte Adamsberg drei Finger seiner Hand entgegen.
    »Da war die Metallerei zwangsläufig nicht mehr zu machen, er wurde Gärtner. Immerhin war er ja nicht einarmig. Er konnte von uns allen am besten mit dem Spaten umgehen, da kann ich wohl sagen.«
    Adamsberg blickte fasziniert auf Andrés runzlige Hand. Drei ausgestreckte Finger. Die verstümmelte Hand des Vaters in Gestalt einer Forke, eines Dreizacks. Drei Finger, drei Krallen.
    »Warum sagen Sie ›zu anständig‹, André?«
    »Weil er’s war. Herzensgut, half immer bei allem aus, hatte immer einen Witz parat. Das gleiche würde ich von seiner Frau nicht behaupten, und ich hatte auch immer meine eigene Meinung dazu.«
    »Wozu?«
    »Dazu, daß er ertrunken sein soll. Sie hat ihn verbraucht, diesen Mann. Sie hat ihn zermürbt. Und letzten Endes ist es egal, ob er nicht auf seinen Kahn aufgepaßt hat, der über Winter rissig geworden war, oder ob er sich hat untergehen lassen. Auf jeden Fall ist es ihre Schuld gewesen, daß er in dem Teich zugrunde gegangen ist.«
    »Sie mochten sie wohl nicht?«
    »Niemand mochte sie. Sie kam von der Apotheke in La Ferté-Saim-Aubin. Ordentliche Leute, ja. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Gérard zu heiraten, denn Gérard war seinerzeit ein sehr schöner Mann. Und dann hat sich das Blatt gewendet. Sie spielte die vornehme Dame und behandelte ihn von oben herab. Mit einem Metallarbeiter in Collery zu leben war nicht gut genug für sie. Sie sagte immer, daß sie unter ihrem Stand geheiratet hätte. Und nach seinem Unfall wurde es noch schlimmer. Sie schämte sich für Gérard und scheute auch nicht davor zurück, es offen auszusprechen. Eine böse Frau, das ist alles.«
     
    André hatte die Familie Guillaumond sehr gut gekannt. Als Junge war er mit dem kleinen Roland spielen gegangen, ein Einzelkind wie er, im selben Alter, das im Haus gegenüber wohnte. Er hatte ganze Nachmittage dort verbracht und war oft zum Abendessen geblieben. Und jeden Abend gab es nach dem Essen die obligatorische Partie Mah-Jongg. So hatte man es in der Apotheke in La Ferté getan, und die Mutter hielt diese Tradition aufrecht. Sie versäumte dabei keine Gelegenheit, Gérard zu demütigen. Denn Achtung, beim Mah-Jongg war’s verboten zu schlinzen. Das heißt? hatte Adamsberg gefragt, der keine Ahnung von dem Spiel hatte. Das heißt, die einzelnen Gruppen von Spielsteinen miteinander zu vermischen, um schneller zu gewinnen, na, wie man Kreuz mit Karo mischt. Das tat man nicht, das war nicht schick. Schlinzen war was für Bauern. Er und Roland wagten nicht, ungehorsam zu sein, lieber verloren sie, als daß sie schlinzten. Aber dem Vater Gérard war es egal. Er zog mit seiner dreifingrigen Hand Spielsteine vom Stapel und witzelte herum. Und Marie Guillaumond sagte immerzu:

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