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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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bei der Arbeit an einem Stein eine Spitze abgebrochen. Glauben Sie, er hätte sich einen andern besorgt? Nein, er hat überm Feuer an seinem Werkzeug gebastelt und ein neues Eisen angeschweißt. Er kannte sich ja zwangsläufig aus mit der Metallerei. Außerdem hat er auch ständig kleine Bilder ins Holz vom Stiel geritzt. Daß er sich mit solchen Albernheiten vergnügte, hat die Marie ganz verrückt gemacht. Ich behaupte nicht, daß es Kunst war, aber es sah trotzdem sehr hübsch aus auf dem Stiel.«
    »Was waren das für Zeichnungen?«
    »Was man so in der Schule macht. Kleine Sterne, Sonnen oder Blumen. Nichts Bedeutendes, aber ich meine, Gérard hatte eine Veranlagung dazu. Etwas zu verschönern, das lag ihm. Und genauso machte er’s auf dem Stiel seiner Hacke, seines Spatens und seiner Schaufel. Man konnte seine Werkzeuge nicht mit anderen verwechseln. Nach seinem Tod hab ich seinen Spaten als Erinnerung behalten. Jemand Anständigeren als ihn gab’s nicht.«
    Der alte André war aufgestanden und brachte einen Spaten an, der von den Jahren blankgescheuert war. Adamsberg betrachtete eingehend den abgeriebenen Stiel mit den Hunderten ins Holz geritzten Bildchen, die sich überlagerten und inzwischen wie mit einer Patina überzogen waren. In diesem abgenutzten Zustand erinnerte er beinahe an einen kleinen Totempfahl.
    »Er ist wirklich sehr hübsch«, sagte Adamsberg aufrichtig, wobei er behutsam über den Stiel strich. »Ich verstehe, daß Sie daran hängen, André.«
    »Wenn ich an ihn zurückdenke, schmerzt es mich. Immer ein gutes Wort für die anderen. Immer einen Scherz auf den Lippen. Aber sie, nein, niemand hat sie bedauert. Ich hab mich immer gefragt, ob nicht sie es getan hat. Und Roland es vielleicht wußte.«
    »Was getan, André?«
    »Den Kahn gespalten«, grummelte der alte Gärtner und drückte den Spatenstiel.
     
    Der Bürgermeister hatte ihn mit dem Lieferwagen zum Bahnhof von Orléans zurückgebracht. Während er in der eisigen Halle saß und auf seinen Zug wartete, kaute Adamsberg ein Stück Brot, um den Schnaps aufzusaugen, der ihm noch immer im Magen brannte wie Andrés Worte im Kopf. Die Demütigung des Vaters mit seiner verkrüppelten Hand, dazu der kränkende Hochmut der Mutter. In diesem Schraubstock der Sohn, der zukünftige Richter, begierig darauf, die Schwäche des Vaters aufzuheben und sein Gebrechen in Stärke zu verwandeln. Indem er mit dem Dreizack tötet wie mit der mißgestalteten Hand, die nun zum Instrument der Allmacht geworden ist. Von der Mutter hatte Fulgence die Sucht zu herrschen und vom Vater die unerträgliche Demütigung des Schwachen bewahrt. Jeder Stoß mit dem mörderischen Dreizack gab Gérard Guillaumond, der besiegt im Schlamm des Teiches versunken war, seine Ehre und seinen Wert zurück. Es war sein letzter Scherz.
    Und natürlich war es für den Mörder unmöglich, sich von dem verzierten Stiel des Werkzeugs zu trennen. Es war die Hand des Vaters, die zuschlagen mußte. Dennoch, warum hatte er nicht den Muttermord bis in alle Ewigkeit wiederholt? Warum hatte er nicht mütterliche Bilder zerstört? Herrschsüchtige und erdrückende Frauen in einem bestimmten Alter? Auf der blutigen Liste des Richters standen Männer ebenso wie Frauen, Halbwüchsige, Erwachsene und alte Leute. Und unter den Frauen, im Gegensatz zu Marie Guillaumond, ganz junge Mädchen. Ging es ihm darum, die ganze Welt zu beherrschen, indem er zufällig zuschlug? Adamsberg aß ein Stück Schwarzbrot und schüttelte den Kopf. Diese rasende Zerstörungswut hatte einen anderen Sinn. Sie war mehr als nur das Auslöschen der Demütigung, sie war das Ausweiten der eigenen Macht, genau wie die Wahl seiner Namen. Sie war eine Erhöhung, ein Bollwerk gegen jede Erniedrigung. Doch einen alten Mann zu pfählen, wie konnte das Fulgence eine solche Empfindung verschaffen?
    Er verspürte eine unsägliche Lust, Trabelmann anzurufen und ihn zu provozieren, indem er ihm mitteilte, daß er nach dem Ohr des Richters nun dessen gesamten Körper ans Licht gezogen habe und dabei sei, ins Innere seines Kopfes vorzudringen. Eines Kopfes, den er ihm – so hatte er es versprochen – auf seinen Dreizack gespießt bringen würde, um den hageren Vétilleux aus dem Kerker zu befreien. Als er wieder daran dachte, wie der Commandant mit ihm umgesprungen war, verspürte Adamsberg nicht übel Lust, ihn in ein Fenster hoch oben im Münster zu stopfen. Allerdings nur ein Drittel des Commandant, von der Brust an aufwärts. Aug

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