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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Fahnen von Quebec. Der Kellner brachte ihm das Abendessen mit bedächtigem Schritt, wobei er sich alle Zeit ließ und vom Leben sprach. Der Teller war groß wie eine Platte mit einem Zwei-Personen-Gericht. Alles ist größer in Kanada, und alles geht langsamer.
    Am anderen Ende des Raumes winkte ein Arm in seine Richtung. Ginette Saint-Preux kam ganz ungezwungen mit ihrem Teller an seinen Tisch und setzte sich.
    »Das störta doch nicht, daß ich mich zu dir setze?« sagte sie. »Ich saß auch ganz allein.«
    Ginette, sehr hübsch, beredt und schnell, stürzte sich ins Gespräch. Seine ersten Eindrücke von Quebec? Die Unterschiede zu Frankreich? Flacher? Wie war Paris? Wie ging’s mit der Arbeit? Lustig? Und sein Leben? Ach so? Sie selbst hatte Kinder und Hobbys, vor allem die Musik. Aber für ein gutes Konzert müsse man bis nach Montreal fahren, interessierte ihn das? Was denn seine Hobbys wären? Ach so? Zeichnen, Spazierengehen, träumen? Gab’s so was? Und wie machte man das in Paris?
    Gegen elf Uhr interessierte sich Ginette für seine zwei Uhren.
    »Du Armer«, schloß sie und stand auf. »Es ist wahr, mit deiner Zeitverschiebung ist es erst fünf Uhr früh.«
     
    Ginette hatte auf dem Tisch den grünen Prospekt vergessen, den sie während ihrer Unterhaltung unaufhörlich zusammen- und wieder auseinandergerollt hatte. Adamsberg, die Augen schon müde, faltete ihn langsam auf. Vivaldi-Konzert in Montreal, 17. bis 21. Oktober, Streichquintett, Cembalo und Flöte. Diese Ginette war ja ganz schön mutig, wenn sie über vierhundert Kilometer fuhr, um ein kleines Quintett zu hören.

18
     
    Adamsberg hatte nicht die Absicht, während des gesamten Aufenthaltes nur auf Pipetten und Strichcodes zu starren. Um sieben Uhr früh war er bereits draußen, magisch angezogen vom Strom. Nein, vom Fluß, dem gewaltigen Fluß der Ottawa-Indianer. Er durchstreifte das Steilufer bis zu einer Stelle, wo ein Wildpfad begann. Tragestellen-Weg, las er auf einem Schild, im Jahre 1613 benutzt von Samuel de Champlain. Sofort schlug er ihn ein mit dem zufriedenen Gefühl, in die Fußtapfen der Ahnen zu treten, von Indianern und Reisenden, die ihren Einbaum auf dem Rücken getragen hatten. Die Strecke war beschwerlich, da der aufgewühlte Weg oft um einen Meter abfiel. Packendes Schauspiel, reißende Fluten, lärmende Wasserfälle, Vogelkolonien und ahornrote Ufer. Er blieb vor einem Gedenkstein stehen, aufgestellt inmitten der Bäume, auf dem die Geschichte dieses Typen, dieses Champlain, ausführlich erzählt wurde.
    »Salut«, sagte eine Stimme in seinem Rücken.
    Ein junges Mädchen in Jeans saß auf einem flachen, den Fluß überragenden Felsstein und rauchte in dieser Herrgottsfrühe eine Zigarette. Adamsberg hatte in dem Klang dieses »Salut« etwas sehr Pariserisches bemerkt.
    »Salut«, antwortete er.
    »Franzose«, behauptete das junge Mädchen. »Was machst du hier? Bist du auf Reisen?«
    »Ich arbeite.«
    Das junge Mädchen blies den Rauch aus und schnippte die Kippe ins Wasser.
    »Ich weiß nicht, wie’s weiter geht. Also warte ich ein bißchen ab.«
    »Wie’s weitergeht?« fragte Adamsberg vorsichtig, während er gleichzeitig die Inschrift auf dem Champlain-Stein entzifferte.
    »In Paris hab ich einen Typen an der Juristischen Fakultät getroffen, einen Kanadier. Er hat mir vorgeschlagen, mit ihm hierherzukommen, und ich habe ja gesagt. Er wirkte eigentlich wie ein großartiger Schumm.«
    »Schumm?«
    »Kumpel, Freund, Schatz. Wir wollten zusammen leben.«
    »Ah«, sagte Adamsberg mit einiger Distanz.
    »Und weißt du, was er sechs Monate später getan hat, mein Schumm? Er hat Noëlla den Laufpaß gegeben und sie einfach hängenlassen.«
    »Noëlla, bist du das?«
    »Ja. Schließlich konnte sie bei einer Freundin unterkommen.«
    »Ah«, wiederholte Adamsberg, der so viel gar nicht wissen wollte.
    »Also warte ich«, sagte das junge Mädchen und zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich verdien mir ein paar Dollar in einer Kneipe in Ottawa, und sobald ich genug zusammenhabe, flieg ich nach Paris zurück. Ist wirklich eine blöde Geschichte.«
    »Und was machst du so früh hier?«
    »Sie hört dem Wind zu. Sie kommt oft hierher, morgens, abends. Ich glaube, selbst wenn man nicht weiß, wie’s weitergeht, muß man einen Platz für sich finden. Und ich habe mir diesen Stein ausgesucht. Wie heißt du?«
    »Jean-Baptiste.«
    »Und dein Nachname?«
    »Adamsberg.«
    »Und was bist du?«
    »Bulle.«
    »Das ist komisch. Hier

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