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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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ist. Criss, man kann niemanden zwingen.«
    Adamsberg überließ Laliberté seinen Reagenzglassorgen und fuhr geradewegs zum Fluß.
     
    Nachdem er sich am Rauschen der Ottawawellen satt gehört hatte, begab er sich auf den Tragestellen-Pfad, um zu Fuß ins Stadtzentrum zu gelangen. Wenn er die Geländebeschreibung richtig verstanden hatte, mußte der Pfad an der großen Brücke bei den Chaudière-Wasserfällen enden. Von dort war es nicht mehr als eine Viertelstunde bis ins Zentrum. Den holprigen Weg trennte ein Waldstreifen von einer Fahrradpiste, der ihn in vollkommenes Dunkel tauchte. Er hatte sich von Retancourt eine Taschenlampe geborgt, dem einzigen Mitglied der Mannschaft, von dem man erwarten konnte, daß es solch ein Utensil mitnahm. Er kam ganz gut voran, lief um Haaresbreite in einen kleinen See, der am Flußufer entstanden war, und wich immer wieder tiefhängenden Ästen aus. Er spürte keine Kälte mehr, als er das Ende des Pfades erreichte, nur ein Stück entfernt von der gußeisernen Brücke, einem riesenhaften Bauwerk, dessen gekreuzte Pfeiler ihn an einen dreifachen Eiffelturm erinnerten, der über dem Ottawa River zusammengesackt war.
     
    Die bretonische Crêperie im Stadtzentrum gab sich alle Mühe, die Erinnerung an die heimatliche Erde der Vorfahren des Wirts heraufzubeschwören, mit Netzen, Bojen und Dörrfischen. Und einem Dreizack. Adamsberg erstarrte vor dem Gerät, das ihn von der gegenüberliegenden Wand her provozierend ansah. Meeresdreizack, Neptuns Harpune, mit drei schmalen Zinken, die in Widerhaken endeten. Ganz anders als sein persönlicher Dreizack, der das Werkzeug eines Bauern war, wuchtig und schwer, ein Erddreizack sozusagen. Genau wie man von einem Erdwurm oder einer Erdkröte sprach. Aber die scharfen Dreizacke und explosiven Kröten waren weit weg, zurückgelassen im Nebel auf der anderen Seite des Atlantik.
    Der Kellner brachte ihm eine Crêpe von abnormer Größe, wobei er auch noch über das Leben sprach.
    Zurückgelassen auf der anderen Seite des Atlantik die Dreizacke, die Kröten, die Richter, die Münster und auch Blaubarts Dachböden.
    Er hatte sie zurückgelassen, aber trotzdem warteten sie auf ihn und lauerten auf seine Rückkehr, all die Gesichter und die Wunden, all diese Ängste, die sich durch das beharrliche Tau der Erinnerung an seine Schritte geheftet hatten. Und auch Camille mußte ausgerechnet hier auftauchen, mitten im Herzen einer abgelegenen Stadt im riesigen Kanada. Die Vorstellung dieser fünf Konzerte, die da, zweihundert Kilometer von der GRC entfernt, gegeben wurden, störte ihn, als könnte er Gefahr laufen, die Bratsche vom Balkon seines Zimmers aus klingen zu hören. Daß bloß Danglard nichts davon erfuhr, das war alles, was er wollte. Der Capitaine wäre imstande, in gestrecktem Galopp nach Montreal zu rasen und ihn den ganzen nächsten Tag über grollend anzustarren.
    Er entschied sich für einen Kaffee und ein Glas Wein als Nachtisch, und ohne den Blick von der Speisekarte zu heben, bemerkte er, wie sich jemand grußlos an seinen Tisch gesetzt hatte. Das junge Mädchen vom Champlain-Gedenkstein, das den Kellner rief, um noch einen zweiten Kaffee zu bestellen.
    »Guten Tag gehabt?« fragte sie ihn und lächelte.
    Das junge Mädchen zündete sich eine Zigarette an und sah ihm offen ins Gesicht.
    Scheiße, dachte Adamsberg und fragte sich, warum. In anderen Momenten hätte er die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Aber er verspürte keinerlei Lust, sie in sein Bett zu locken, entweder, weil die Qualen der vergangenen Woche noch immer auf ihm lasteten, oder vielleicht auch, weil er den Phantasien des Surintendant entgegenzuhandeln suchte.
    »Ich geh dir auf die Nerven«, behauptete sie. »Du bist müde. Die Ochsen haben dich ganz schön rangenommen.«
    »So ist es«, sagte er und bemerkte, daß er ihren Vornamen vergessen hatte.
    »Deine Jacke ist feucht«, sagte sie und faßte ihn an. »Ist dein Wagen weg? Bist du mit dem Fahrrad gekommen?«
    Was wollte sie denn wissen? Alles?
    »Ich bin zu Fuß gekommen.«
    »Hier geht niemand zu Fuß. Hast du das noch nicht bemerkt?«
    »Doch. Aber ich bin über den Tragestellen-Pfad gelaufen.«
    »Die ganze Strecke? Und wie lange hast du gebraucht dafür?«
    »Ein bißchen mehr als eine Stunde.«
    »Na, da hast du ja wirklich Schneid, wie mein Schumm gesagt hätte.«
    »Und warum sollte ich Schneid haben?«
    »Weil der Pfad nachts der Treffpunkt der Schwulen ist.«
    »Und weiter? Was meinst du, könnten dir

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