Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
geistigen Leidens oder umgekehrt? Beim männlichen Gegenstück, dem Hypochonder, glaubte man daran, dass dessen Leiden vor allem vom Darm verursacht sei. Es ist aufgeklärten Medizinern wie Wittmaack zu verdanken, dass sich hier Mitte des 19. Jahrhunderts endlich etwas tat. Die Mediziner erkannten, dass sie mit solchen mechanistisch anmutenden Ursache-Wirkung-Ketten nicht immer richtig lagen. Zum einen war es offensichtlich so, dass der Mensch nicht einfach wie eine Maschine funktionierte: Es gab keinen Knopf, den man drücken konnte, um stets dieselbe Reaktion zu verursachen. Und umgekehrt konnte ein Symptom eben auch für eine Vielzahl von Ursachen stehen.
Man entdeckte neue Querverbindungen, was aber auch nicht davor schützte, wieder einigen Absurditäten auf den Leim zu gehen: Noch Siegmund Freud pflegte lebhafte, ernsthafte Debatten mit seinem Freund Wilhelm Fließ, dem Entdecker der »nasalen Reflexneurose«. Darunter versteht man die (inzwischen zum Glück weitgehend vergessene) angeblich direkte Verbindung zwischen der Nase und den Geschlechtsorganen der Frau, die für Probleme sorgen konnte. Fließ sah einen Zusammenhang zwischen bestimmten psychischen Leiden, sexuellen Beeinträchtigungen und HNO-Problemen und behandelte seine Patientinnen entsprechend: Klagten sie über sexuelle Probleme, über Hysterie oder nervöse Leiden, behandelte er die Nase.
Seine vier Lehrbücher zur nasalen Reflexneurose wurden Bestseller. Freud selbst distanzierte sich allerdings ab etwa 1902 von der sexuellen Nasenkunde und erklärte in der Folge seine Patienten und Patientinnen lieber für sexuell traumatisiert, jeder auf seine Weise. So verdienstvoll viele von Freuds diesbezüglichen Entdeckungen gewesen sein mögen, der Vater der Psychoanalyse hätte, was seine Sexualität betraf, vielleicht selbst eine gebrauchen können.
Andere Forscher schienen in dieser Hinsicht weiter. Sie unterschieden die »geistigen« Leiden von physiologischen Phänomenen, die – so Wittmaack – mitunter auch Reflex-Charakter haben, also ein durchaus eigenständiges, physiologisches Leiden sein könnten. Nicht im jedem Fall musste ein Symptom immer dieselbe Ursache haben – und eine Ursache mochte vielfältige Symptome aufweisen.
Schließlich sei selbst die Hysterie nicht ausschließlich auf Frauen beschränkt, sondern erfasse durchaus auch Männer. Und das, obwohl denen die angeblich alleinige Ursache, der Uterus, fehlt. Selbstverständlich fielen als Hysteriker nur »schwächliche, reizbare, sehr junge, weibische Subjekte« auf, wie Wittmaack an anderer Stelle einen Kollegen zitierte.
Solche Studien räumten endlich gründlich auf mit den alten Irrlehren, schufen dafür aber neue und bereiteten der kommenden Disziplin der Psychologie und Psychoanalyse den Boden: Auch Sigmund Freuds Interesse daran, was uns alle psychisch ticken lässt, wurde vom Thema Hysterie geweckt. 50 Jahre nach Wittmaacks Studie hatte man letztlich erkannt, dass hier nicht nur Körper und Geist eine Rolle spielten, sondern sogar soziale Faktoren. Meyers Großes Konversations-Lexikon von 1905 erklärt das Thema folgendermaßen:
Hysterie (griech., v. Hystera, »Gebärmutter«, Mutterweh), eine Krankheit des Zentralnervensystems, bei der keinerlei wahrnehmbare Veränderungen des Nervensystems gefunden werden. Da die H. am häufigsten (es gibt auch männliche H.) beim weiblichen Geschlecht, und zwar vorzugsweise von der Zeit der Pubertätsentwickelung an bis zum Erlöschen der Geschlechtsfunktionen beobachtet wird, und da in vielen Fällen Krankheiten der Geschlechtsorgane die H. begleiten, so hat sich die Ansicht gebildet, daß die H. eine von den Nerven der Geschlechtsorgane ausgehende Störung des gesamten Nervensystems sei. Wenn auch Erkrankungen des Geschlechtsapparates (Gebärmutter, Eierstöcke etc.) eine gewisse Rolle bei der Entstehung der H. ebenso wie viele andre ursachliche Momente spielen können, so wäre es verfehlt, wenn man in allen Fällen, wo keine nachweisbaren Erkrankungen (namentlich chronische Entzündungen) der weiblichen Beckenorgane vorliegen, die H. von widernatürlicher Aufregung und Befriedigung des Geschlechtstriebs herleiten wollte. Das häufige Vorkommen der H. bei kinderlosen Frauen, jungen Witwen und alten Jungfern, zumal in den höhern Gesellschaftskreisen, ist weit mehr von psychischen als von körperlichen Einflüssen herzuleiten.
Der Lexikon-Eintrag dokumentiert zumindest, dass man Frauen mittlerweile einen Geschlechtstrieb
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