Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
auf das Jüngste Gericht und schienen keine Lust mehr zu haben, ihre kostbare restliche Zeit mit Kellogg zu verbringen – sie setzten ihn einfach vor die Tür.
Der »violette Zauberstab« als Allheilmittel gegen jede Beschwerde. Prostatasonde inklusive
Kellogg ließ sich von solcher Kleingeistigkeit nicht beirren und entwickelte nicht nur zahlreiche Therapiemethoden zur Behandlung geistiger und körperlicher Leiden, sondern beglückte die Welt auch mit abstrusen Vorstellungen über ein gesundes, gottgefälliges Leben. Dazu gehörte nicht nur eine vegetarische Ernährungsweise (die Cornflakes!), sondern auch strenge sexuelle Abstinenz. Er selbst lebte in einer Ehe, die er nach eigener Aussage nicht »vollzog«. Stattdessen adoptierte er zusammen mit seiner Frau sieben Kinder und zog über 40 Pflegekinder auf – so kam bei seiner Frau Ella sicher trotz der seltsamen Ehe keine Langeweile auf.
Selbst dieser penetrant fromme, pathologisch sexualitätsfeindliche Mensch aber hatte die althergebrachten »Hystera«-Theorien über den Ursprung der Hysterie derart verinnerlicht, dass in seinem Sanatorium sogar pulsierende Wasserstrahl-Genitalmassagen angeboten wurden. Diese Therapien hatten schließlich nichts mit Sex zu tun, sondern waren Kuren.
Solche aufwendigen Behandlungsmethoden bekamen bald schon handlichere Konkurrenz, für die man weder Heizer noch Baderäume mit Pflegepersonal brauchte: Bereits 1883 wurde Joseph Mortimer Granville das Patent auf den elektrischen Vibrator zugesprochen.
Völlig unverfänglich: Vibrierender, »Reittrainer« für den Sport daheim
Jetzt gab es kein Halten mehr. Bis zur Jahrhundertwende warfen Firmen allein in den USA über 100 verschiedene elektrische Vibrator-Modelle auf den Markt. Noch waren auch diese vor allem der ärztlichen Praxis vorbehalten, wurden sie normalerweise doch mit einer sündhaft teuren, riesig großen Batterie betrieben. Im Vergleich zu den Dampfmaschinen-Vibratoren erschienen sie natürlich trotzdem leicht portabel.
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts platzte der Knoten endgültig. Die Glühbirnenfassung wurde zur Stromquelle für die medizinischen Hilfsgeräte. Verkauft wurden sie ganz offen, und beworben auch: Die zeitgenössische Presse ist voll mit entsprechenden Anzeigen, genau wie die Kataloge deutscher Versandhäuser und Elektrowarenhändler.
Uns wundert das heute. Der Vibrator ist ein Widerspruch, ein Bruch mit allem, was wir normalerweise mit der prüden viktorianischen Zeit verbinden. Tatsächlich begann aber ausgerechnet um die Jahrhundertwende – den Höhepunkt erreichte das natürlich in den frivolen 1920ern – ein verblüffend freizügiger Umgang mit Geräten, die wir heute als Sex-Spielzeuge sehen würden. Vonseiten Männern wie Frauen. Möglich machte das die aufrechterhaltene Illusion, es gehe dabei nicht um Sex, sondern um Gesundheitspflege – genau wie bei Kellogg.
Und seine Gesundheit war man natürlich stets bereit zu pflegen. Mitte des 19. Jahrhunderts kam in den USA bereits der Trend auf, den eigenen Körper zu optimieren. Sich mittels Maschine selbst zu behandeln gehörte also damals schon zur Normalität.
Die Grenzen zwischen Fitness und Sexualität waren dabei auf bizarre Weise fließend. Eine der seltsamsten Fitness-Maschinen, die der schwedische Arzt Gustav Zander, der Erfinder des modernen Fitness-Studios, in seinen Läden aufstellen ließ, war ein Apparat, der in verschiedenen Höhen und Positionen seinen Anwender (oder seine Anwenderin) reiben konnte. Auch gleich von zwei Seiten, wenn man das wünschte. Es war nicht die einzige Zander-Maschine, die Muskeleinsatz mit Streicheleinheiten belohnte – das gehörte zur »medico-mechanischen Therapie«. Ähnlich sind auch die zahlreichen Reittrainer zu bewerten, die ab 1880 auf den Markt kamen: Sattel-Apparate, auf denen man sich gemütlich im eigenen Heim rütteln und schütteln lassen konnte. Natürlich um die Rückenmuskulatur zu stärken.
Die meisten Maschinen, die das körperliche Wohlbefinden summend mehren sollten, waren jedoch von eindeutigerer Natur. Eine erhebliche Rolle neben den eigentlichen, nur auf mechanische Reize setzenden Vibratoren spielten dabei Reizstromgeräte verschiedenster Bauart und Intensität.
Sie wurden vor allem als Gesundheitsapparate verkauft. Gürtel und Kontakt-Pads, mit denen man sich, wenn man wollte, ganztägig unter Strom setzen konnte, waren die teurere Variante des Magnetgürtels und ähnlicher Quacksalbereien. Heilen sollten sie so
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