Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
ziemlich alles, von Hysterie über Akne bis hin zu Krebs. Magnetische Einlegesohlen sollten mit ihren Feldern die Füße wärmen. Armbänder und Bauchgurte wurden gegen Rheuma, Grippe oder Migräne eingesetzt.
Allein die Konstruktionen aber machten schon klar, dass es letztlich allzu oft um Sex ging: Bei Männern beliebt war etwa der Gürtel mit feinmaschigem Skrotum-Säckchen, in das man die Hoden hängen sollte, auf dass diese über den Tag aufgeladen würden. Strom, erinnerte so mancher Werbeslogan, war schließlich Lebenskraft – bis heute ein oft eingesetztes Synonym für Potenz.
Weit potenter als solche Gerätschaften, die im Grunde nichts bewirkten, waren die Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend populären Hochfrequenz-Reizstromgeräte.
Solche Apparate erzeugen Wärme-und – je nach eingesetzter Stromstärke – prickelnde bis stechende Gefühle dort, wo ihre Funken auf die Haut übergehen. Sie kamen aus der Medizintechnik, wo sie auch heute durchaus noch eingesetzt werden: Es gibt zahlreiche Anwendungen, die tatsächlich gesundheitsfördernd sind. Das erklärt aber kaum ihren Siegeszug, den sie ab etwa 1910 in privaten Haushalten erlebten.
ReizstromGürtel, teilweise mit Hoden-Aufnahme: Geschlecht unter Strom
Frequenta-Grundmodell: Heilgerät mit höchst vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten
Welche Varianten wegen vaginaler und analer Stimulationsmöglichkeiten nur an Fachleute abgegeben werden durften, stand praktischerweise als »Warnung« im Handbuch
Otto Normalverbraucher wurden sie als Heilmittel für alle Fälle verkauft. Das Frequenta-Modell (Baujahr 1928), das ganz am Anfang der Recherchen zu diesem Buch stand, half angeblich gegen folgende Leiden: Hauterkrankungen, Jucken, Hautröte, Haarausfall, Schuppen, Frostbeulen, Kopf-und Zahnschmerzen, Rheuma, Ischias, Gicht, Hexenschuss, Verdauungsstörungen, Neuralgie, Neurasthenie, Ohrensausen, innere und äußere Hämorrhoiden, Warzen, Hühneraugen, Leberflecken, Muttermale, Tätowierungen, Kopfweh, Migräne, Nervosität, Erkrankungen der Luftwege, Katarre der Nase und Stirnhöhle, Grippe, Rippenfellentzündung, Halsschmerzen, Asthma, Bronchitis und »Rotzkrankheit bei Pferden«. Glaubt man den »wegen Raummangel« nur auszugweise wiedergegebenen Dankschreiben am Ende der Broschüre, verursachte das Frequenta-Gerät mit ein wenig Glück sogar Spontanheilung von Blinden. Daneben diente das Gerät der Schönheitspflege, der Massage von »Gesicht, Nacken und Büste«, »zur Aufladung, Stärkung, Erfrischung, Entfernung der Nervosität und Schlaflosigkeit« und war gut »bei allen Behandlungen in den Körperhohlräumen«.
Bestens versteckt und gleichzeitig glasklar, worum es ging. Damit aber auch wirklich niemand verpasste, was es mit dem Wundergerät auf sich hatte, enthielt die Broschüre strategisch platziert gleich mehrere eindeutige, als Warnungen oder Gebrauchshinweise getarnte Tipps:
Erst nach Einführung der Elektrode in den Körperhohlraum ist der Strom einzuschalten und vor dem Herausnehmen auszuschalten.
Geradezu niedlich fällt die Anleitung zur »Behandlungsform 5« aus, bei der die zu behandelnde Person eine Elektrode festhält und von einem Partner eine Massage empfängt, bei der die Ströme über die Fingerspitzen des Partners laufen:
Die Hilfsperson, meist aus der eigenen Familie, streicht sanft bei beständigem Kontakt mit den Fingerspitzen beider Hände über die schmerzenden oder zu heilenden Stellen. (…) Das Blut wird nach den Berührungsstellen gezogen und dadurch der Kopf entlastet.
Ja, das sollte man bei Kopfschmerz unbedingt machen.
Wer die hauptsächliche Zielgruppe war, obwohl solche Reizstrom-Sets regelmäßig etwa auch Prostata-Stimulationssonden enthielten, blieb ebenso wenig im Verborgenen:
Frauen, erhaltet euch eure Jugendfrische durch den Hochfrequenz-Heilstrom! Je 5 Minuten am Morgen und Abend genügen. Elektroden mit Neon-Edelgas gefüllt, mit weicher Wirkung, sehr empfehlenswert.
Das Gas sorgte für einen weiteren Effekt: Die oft bizarr geformten Röhren, die es in zahllosen Varianten gab, leuchteten sanft im Dunkeln. Im englischen Sprachraum bekamen sie darum bereits in den 1920er Jahren den Spitznamen »Violet Wands« – violette Zauberstäbe. Diese Klassiker gelten heute als Sexspielzeuge und erfreuen sich vor allem in der Leder-Szene großer Beliebtheit.
Wer nicht glauben mag, dass diese Art der Nutzung schon damals der Normalfall war, sei noch einmal auf die Broschüre von 1928 verwiesen. Die
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