Der Vogelmann
auf.
»Ja?«
Caffery trat ein. »Ich habe Ihnen ein Bier gebracht.«
Er stellte es auf den Schreibtisch und deutete auf ein Foto, das auf den Akten in der Kiste lag und zwei kleine Jungen in Schuluniform zeigte. »Sie sehen Ihnen sehr ähnlich. Sie müssen stolz auf sie sein.«
»Danke.« Diamond sah ihn mit seinen blaßblauen Augen lange an. Leichter Schweiß war um seinen Mund ausgebrochen, und er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Er drehte das Foto um, schob sorgfältig die Bierdose über den Schreibtisch zurück, wandte sich von Caffery ab und zog einen Klebestreifen über die Kiste. »Aber ich trinke nicht im Dienst.«
Als Susan aufwachte, war er fort. Sie befand sich in einem Schlafzimmer, er hatte sie ans Bett gefesselt, sie fühlte sich zerschlagen und orientierungslos, hatte rote und blaue Flecken am Körper, und in ihrem Gesicht und ihren Brüsten pochte das Blut. Ihre Augen waren so geschwollen, daß die Oberlider an den Unterlidern schabten, als wären ihre Augenwimpern umgedreht worden.
Er hatte sie mit Klebeband geknebelt, und während er sie gefoltert hatte, hatte er Polaroidfotos gemacht, die er ihr hinterher gezeigt hatte. Susan hatte geweint, als sie das erste sah, sie hatte das arme geschwollene Gesicht mit den hervorgequollenen Augen nicht erkannt. Aber sie erinnerte sich kaum, was danach geschah. Sie sank immer wieder in Ohnmacht.
Jetzt zeigte die Wanduhr halb sechs, sie hatte acht Stunden geschlafen, oder war sie bewußtlos gewesen? Sie wußte, daß sie Fieber bekam, was nur heißen konnte, daß die Wunden infiziert waren. Das konnte sie riechen, und die Spitze ihrer rechten Brustwarze war eitrig und entlang des schwarz verkrusteten Einschnitts geschwollen.
Sie lag still und lauschte angestrengt. Von irgendwo in der
Wohnung hörte sie den Laut eines Vogels, aber er sang nicht, sondern zwitscherte nur kläglich. Von draußen hörte sie das Quietschen oder Surren eines – was war das?, ein Kran? –, gelegentlich das Donnern eines Lasters, der eine Ladung abwarf. Bauarbeiten. Sie war also nicht in der Nähe der Malpens Street. In ihrer Gegend gab es keine Baustellen. Also wo? Wo bist du, Susan?
Irgend etwas sagte ihr, daß sie nicht weit von zu Hause entfernt war. Sie war noch immer in Greenwich oder Lewisham.
Sie schloß die Augen und versuchte mit aller Kraft, sich zu erinnern. Wo war die nächste Baustelle in der Nähe der Malpens Street? Wo? Aber die Anstrengung erschöpfte sie. Sie müßte sich eine Weile ausruhen. Dann würde sie versuchen, zum Fenster zu gelangen.
Die Party begann sich aufzulösen. Essex, der wieder sein Hemd trug, räumte die leeren Dosen von den Schreibtischen, und Marilyn stand mit so vielen Bechern in beiden Händen, wie sie tragen konnte, neben dem Drucker und sah zu, wie ein SPECRIM-Bericht eintraf. Betts nahm die Fotos von den Wänden.
Caffery hatte Mühe gehabt, sich so umstandslos zu entspannen wie die anderen; seine Augen waren vom Formaldehyd im Leichenschauhaus entzündet, und er wollte den Abschluß der Untersuchung abwarten, er wollte wissen, ob der Zementstaub mit den ersten Proben übereinstimmte. Er hatte den größten Teil des Abends vor dem offenen Fenster verbracht, nachdenklich geraucht und den Rauch in die Abendluft geblasen. Ein paar Minuten nach sieben hielt Fiona Quinns Wagen auf der Straße unten an.
Jack setzte sich plötzlich auf und drückte die Zigarette aus. Irgend etwas stimmte nicht. Das sah er an dem Tempo, mit dem Detective Sergeant Quinn aus dem Auto stieg.
Er traf sie im Gang. »Was gibt’s?«
Logan stellte die gelbe Kiste mit den Beweismitteln auf den
Boden und strich sich erschöpft durchs Haar. »Fragen Sie nicht.«
Im Einsatzbesprechungsraum sahen alle erwartungsvoll auf. Als Maddox Fionas und Logans Gesichtsausdruck sah, wurde seine Miene ernst. »Ach, um Himmels willen. Sagt mir nichts.«
»Tut uns leid, Sir. Ein paar Drogenbestecke, fast ein halbes Kilo Heroin, aber hinsichtlich dessen, wonach wir suchen, war nichts zu finden.«
»Nichts Organisches«, erklärte Fiona.
»Mist.« Er legte die Finger an die Stirn. »Also dann wieder alles von vorn. Wird das je ein Ende nehmen?«
»Sir?« Alle drehten sich um. Marilyn stand mit verwundertem Gesichtsausdruck. Eine endlose Papierschlange wurde ausgespuckt, die sie mit den Händen auffing.
»Was?«
»Wir haben ein Verbrechen in Greenwich. Das Opfer wurde in einer Tonne abgelegt. Sie lebt, aber…« Sie sah auf. »… aber der Täter hat eine
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