Der Vogelmann
dem Taschentuch aus ihrem Ärmel ab und rückte ihre Brille zurecht. »Also, Mr. Caffery, kann ich Ihnen eine schöne Tasse Tee bringen? Er ist aus dem Automaten, fürchte ich, aber ich habe ein bißchen Pulverkaffee unter meinem Schreibtisch, und ich würde mich freuen, Ihnen …«
In Cafferys und Maddox’ Büro waren die Jalousien hochgezogen, und die Nachmittagssonne, die durch die staubigen Fenster schien, hatte alles auf dem Schreibtisch glühend heiß werden lassen. Caffery bemerkte den Geruch des heiß gewordenen Telefongehäuses, als er ein Fenster öffnete, die Jalousien herunterzog, den Ellbogen aufstützte und Pendereckis Telefonnummer auf der Schreibtischunterlage heraussuchte. Er ließ es klingeln und sah zu, wie sich die Zeiger der Uhr bewegten. Er wußte, daß sich niemand melden würde.
Eines Tages im letzten Jahr hatte er versucht, Penderecki mitten am Nachmittag anzurufen. Er kannte Pendereckis Tagesablauf so genau, daß er sich wunderte, warum das Telefon nicht abgenommen wurde. Er ließ es klingeln, sah aus den Fenstertüren und fragte sich, ob das Undenkbare passiert war und Penderecki tot bei sich zu Hause auf dem Boden lag.
Aber dann erschien Pendereckis füllige Gestalt an der Hintertür, er hatte die Hosenträger über die schmutzige Weste gezogen. Die Bäume waren dicht belaubt, aber Caffery konnte sein Gesicht und einen verschwitzten, weißen Arm erkennen, der zwischen den Blättern herauswinkte. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß Penderecki ihm zuwinkte, die Daumen nach oben streckte und zahnlos grinste. Er teilte Caffery mit, daß er wußte, wer am Telefon war.
Von diesem Tag an ließ es Penderecki klingeln, wenn Caffery ihn vom Büro oder von zu Hause aus anrief. Wenn er tatsächlich
einmal abnahm, meldete er sich mit einem trockenen, ausdruckslosen »Hallo, Jack«. Caffery vermutete, daß er eine digitale Anlage geschaltet hatte. Jetzt bestand die einzige Freude in dem Bewußtsein, daß das Geräusch des Klingelns das Haus erfüllte, solange er dies wollte. Kleine, kindische Freude, Jack. Vielleicht hat Veronica recht, was dich anbelangt. Manchmal rief er mehrmals täglich an.
Er ließ es zehn Minuten klingeln, legte dann auf und spazierte in den Einsatzbesprechungsraum, um zu sehen, ob von dem Angestellten aus St. Dunstan ein Fax angekommen war.
15. KAPITEL
L ucilla war halb Italienerin, halb Deutsche und die explosivste Persönlichkeit im Hause Harteveld. Sie hatte grobe Knochen, walnußfarbene Haut und war so lang und so breit wie die Türrahmen. Bei Einladungen ließ sie sich nicht davon abhalten, gegen den Steinway-Flügel gelehnt zu singen, während ihr Wimperntusche über die Backen rann, weil sie von irgendeiner Arie zu Tränen gerührt wurde. Toby Harteveld, der hinter der Herablassung des wohlerzogenen englischen Knaben einen zurückhaltenden Charakter verbarg, konnte nicht glauben, daß diese Frau mit dem wehenden schwarzen Haar und den Eifersuchtsausbrüchen tatsächlich seine Mutter war. Er begann früh, sie zu hassen.
Sie lächelte. »Hallo, Kleiner. Da …« Sie streckte ihm den Rasierapparat entgegen. »Du kannst mir helfen.«
»Nein, Mutter.« Er war ruhig. Als hätte er gewußt, daß dies passieren würde.
»Nein?« Sie lächelte. »Nein, Mutter?« Sie senkte den Kopf. »Bist du ein kleiner Homo, Toby? Sag’s mir? Bist du ein kleiner Arschficker? Hm?«
»Nein, Mutter.«
»Ich werde deinem Vater sagen, daß du versucht hast, mich anzugrapschen.«
»Nein, Mutter.«
»Nein, Mutter? Du meinst wohl, das mach ich nicht?« Den Kopf zur Seite geneigt, sah sie ihn mit ihren glänzenden schwarzen Augen prüfend an, als überlegte sie, welches Ende sie zuerst verschlingen sollte. Dann warf sie ungeduldig den
dunklen Kopf herum, stieß das Fenster auf und beugte sich zu dem kiesbestreuten Hof hinunter, während ihre weichen Brüste plattgedrückt auf dem Fenstersims lagen. »Henrick! Henrick! Bitte hol deinen Sohn.«
Toby nutzte die Gelegenheit, um aus der Tür zu schlüpfen. Ohne die ärgerlichen Rufe aus dem Badezimmer zu beachten, rannte er an zitternden Kronleuchtern und schockierten Dienstboten vorbei die Treppe hinunter und durch holzverkleidete Gänge ins Freie hinaus. Er fand einen Ulmenstamm am Seeufer, hinter dem er sich duckte und bis zum Abend versteckt hielt.
Als er zurückkehrte, war das Haus still, als wäre nichts geschehen. Sein Vater löffelte Hummersuppe am Tisch, seine dünnen Lippen waren ein wenig blasser als sonst,
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