Der Vollstrecker
tiefliegenden Augen musterten aufmerksam das Gesicht eines jeden Fahrgastes, der ein- oder ausstieg.
Er bestellte sich noch einen Kaffee und sah auf die Uhr. Der nächste Bus würde in drei Minuten kommen â genug Zeit, um kurz auf die Toilette zu gehen. Seit mehreren Tagen folgte er jeden Tag exakt derselben Routine: Er kam gegen Mittag her und ging erst wieder, wenn der Diner um elf Uhr abends schloss. Aber bis jetzt hatte er kein Glück gehabt.
Auf der Toilette spritzte er sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und fuhr sich mit der Spitze des Zeigefingers über die hässliche Narbe an seiner Stirn. »Nicht mehr lange«, flüsterte er seinem Spiegelbild zu.
Der Bus fuhr gerade an, als er wieder in den Gastraum trat. Er war mindestens eine Minute zu früh gekommen. Der Mann stieà einen Fluch aus und eilte zu seinem Platz. Hastig glitt sein Blick hin und her, aber die meisten Fahrgäste hatten sich bereits zerstreut.
Das Mädchen in der rotweiÃen Kellnerinnen-Uniform musste rennen, um den Bus noch zu erwischen, der gerade losfahren wollte. Sie sprang an Bord, schlüpfte auf einen Sitz vorne am Fenster, lieà den Kopf in die Hände sinken und fragte sich verzweifelt, welche Ausrede sie ihrem Vermieter diesmal auftischen sollte.
Der Mann im Diner hatte sie nicht bemerkt.
59
D er Geruch von verkohltem Fleisch war noch genauso stark wie am Abend zuvor und brachte beide Detectives beim erneuten Betreten des Malibu-Hauses zum Würgen. Garcia zerkaute hastig zwei Magentabletten, bevor er die Hand über Mund und Nase legte. Trotzdem rebellierte sein Magen, während sie sich dem Wohnzimmer näherten, und kurz vor der Tür blieb er stehen. Er beugte sich vornüber, Hände auf die Knie gestützt, und konzentrierte sich darauf, sich nicht schon wieder zu übergeben.
»Warum wartest du nicht einfach hier?«, schlug Hunter vor und zog sich ein Paar Latexhandschuhe über. »Ich sehe mir derweil den Kamin an.«
»Klingt nach einem guten Plan«, antwortete Garcia und atmete langsam aus.
Hunter zog sich den Kragen seines Hemds notdürftig als Maske über Mund und Nase und ging zum Kamin an der südlichen Seite des Raumes. Ãberall waren Spuren von Fingerabdruckpulver zu sehen. Der Stuhl, an den Amanda Reilly gefesselt gewesen war, stand nicht mehr da, er war zur weiteren kriminaltechnischen Untersuchung abtransportiert worden. Das einst wunderschöne Wohnzimmer hatte nun die Aura einer Folterkammer, Hunter stellten sich die Nackenhaare auf. Er atmete tief durch den Mund ein und lenkte den Strahl seiner Taschenlampe auf den groÃen steinernen Kamin. Wie auf dem Foto war der Sims mit verschiedenen Gegenständen dekoriert â kleinen Figuren, vier farblich aufeinander abgestimmten Vasen und zwei Kerzenhaltern, aber Hunters Aufmerksamkeit galt einzig und allein den beiden Fotos in den silbernen Bilderrahmen. Eines an jedem Ende des Kaminsimses. Die Rahmen selbst waren nichts Besonderes, vermutlich konnte man sie in jedem Kaufhaus erwerben. Das Bild auf der rechten Seite nahm sich Hunter zuerst vor. Es war in etwa zwanzig Zentimeter Abstand zur Wand aufgestellt, so dass er sich bequem die Rückseite ansehen konnte, ohne den Rahmen bewegen zu müssen. Nichts Auffälliges. Er untersuchte den zweiten Rahmen, mit demselben Ergebnis. Dann erst nahm er die beiden Bilder vom Kaminsims herunter.
Die Fotos waren nicht von Dan Tyler und seiner Frau. Das erste zeigte eine Frau, die lächelnd und mit einem Glas Rotwein in der Hand in entspannter Haltung auf einem schwarzen Ledersofa saÃ. Sie war attraktiv und aufwendig gestylt: kurze blonde Haare, viel Make-up, babyblaue Augen. Sie hatte etwas Arrogantes an sich. Das zweite Foto zeigte einen Mann, der an einer weiÃen Wand lehnte. Er war schlank, mit adrett geschnittenen blonden Haaren und ausdruckslosen haselnussbraunen Augen. Er trug ein hellgrünes T-Shirt und ausgewaschene Bluejeans. Auf den ersten Blick gab es an keiner dieser beiden Personen irgendetwas Besonderes. Aber wer waren sie?
»Alles okay da drinnen?«, rief Garcia von der Tür her.
Hunter schrak zusammen.
»Ja, ja. Gib mir noch eine Minute.«
Er drehte einen der Bilderrahmen um und löste vorsichtig die vier Clips, die das Foto im Rahmen hielten. Urplötzlich fröstelte er, als hätte jemand im Raum ein Fenster aufgerissen und eine kalte Brise hereingelassen. Er sah auf und leuchtete mit der
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