Der Vollzeitmann
her. Selbstkritisch stellte Attila fest, dass selbst ein Teufel mit Arthrose, doppeltem Kreuzbandriss und Walking-Stöcken ihn locker einholen würde.
Obwohl Attila noch nichts Messbares geleistet hatte, stellte er dennoch eine untypische Albernheit bei sich fest, völlig unverdient. Ob das die Glückshormone waren? Von der Musik aus dem Kopfhörer ließ er sich immer wieder zum Mitsingen animieren, ganz leise natürlich. Der Typ, der ihm gerade entgegengekommen war, hatte ihn ziemlich schräg angesehen. Was glotzte der so blöd? Attila erschrak. Hatte er im frühmorgendlichen Überschwang womöglich etwas lauter bei ELO mitgesungen, und zwar ausgerechnet die Textzeile »You took me ooooh higher and higher baby«? Und dabei ebenso debil geklungen wie ausgesehen? Hatte er also die zukünftig führende deutsche Strategieberatung soeben der Lächerlichkeit preisgegeben?
Erst schämte Attila sich, dann verfluchte er sich für seine Kontrolllosigkeit. Er hatte sich dämlicher angestellt als der letzte Praktikantenschwengel. Was wäre passiert, wenn der Entgegenkommende ein Rivale gewesen wäre, der geistesgegenwärtig ein Handyfilmchen mit Tonspur aufgenommen hätte? Attila wäre erledigt gewesen. Vielleicht hätte er für seine ehemaligen Kunden noch einen letzten Lehrfilm drehen können: Wie Youtube eine Karriere in dreißig Sekunden erledigt. Gleich danach hätte Wesley ihn gefeuert, und zwar völlig zu Recht.
Seine Frau Camille behauptete ja, derlei unkontrollierte Singerei sei ein Zeichen tiefer Entspannung. Aber wenn Entspannung bedeutete, dass man die Kontrolle über sich verlor, dann wollte Attila lieber nicht entspannt sein.
Krieg, dachte Attila, es herrscht Krieg, jede Minute, jede
Sekunde. Wer einen einzigen Fehler macht, der verliert. Und ich werde nicht verlieren.
Maik mochte diesen Geruch von Haferbrei, der ihm entgegenwehte, als er die Tür öffnete. So roch Zuhause. Man konnte viel über Ulrike sagen. Aber ihr Haferbrei war großartig.
Seine Frau eilte ihm entgegen, in diesem marokkanischen Familienzelt, das sie Morgenmantel nannte und das ihre üppige Silhouette noch betonte. Sie fiel ihm um den Hals. »Ich bin so froh, dass es dich gibt«, schluchzte sie. Maik hätte gern etwas Gleichwertiges erwidert. Aber er log ohnehin schon genug. Ulrikes plötzlicher Gefühlsausbruch rührte ihn dennoch. Die letzten Jahre hatte sie im Wesentlichen damit zugebracht, ihm nachzuweisen, dass er ein schlechter Mensch sei.
Ob jede Ehe so verlief? Erst eine kurze Weile großer schöner Emotionen, dann Heirat, Kinder und schließlich eine sehr lange Weile voll gruseliger Gefühle. Ulrike und er lieferten sich seit Jahren einen permanenten Wettbewerb, wer der Gründlichere, Klügere, Verantwortungsvollere sei, wen die Kinder mehr liebten, wer besser erzog, wer fleißiger war, wer also der bessere Mensch war. Jeder Dialog war gespickt mit Nadelstichen, kleinen Hieben oder triumphalen Beweisführungen. Am Ende ging es um nichts anderes als einen Machtkampf, der keinen Anfang hatte, kein Ende außer dem Tod und außer einer Zementierung des Stillstands nichts brachte.
»Ob jede Ehe so verlief? Erst eine kurze Weile großer schöner Emotionen, dann Heirat, Kinder und schließlich eine sehr lange Weile voll gruseliger Gefühle.«
Genauso musste es in Verdun gewesen sein, als sich viele Tausend Männer jahrelang eingebuddelt und beschossen hatten, ohne auch nur einen Millimeter voranzukommen. Hätten sich deutsche und französische Soldaten gleich am ersten Tag darauf verständigt, gemeinsam in die Bretagne zu fahren, auszuspannen, Fisch zu essen und eiskalten Entre-deux-mer zu trinken, wahlweise Muscadet, um schließlich nach zwei, drei Jahren wieder in die alten Stellungen zurückzukrabbeln, wäre die Weltgeschichte nicht wesentlich anders verlaufen. Aber ein paar Männer hätten garantiert mehr vom Leben gehabt. Deserteure sind keine Feiglinge, sondern die wahren Helden, dachte Maik, und der Stellungskrieg ist ein Fluch.
Es war noch viel zu früh zum Aufstehen, aber alle waren wach. Henry und Anna lugten hinter Ulrikes Folklorezelt hervor. »Wo hat es denn wehgetan, Papa?«, fragte Anna. Sie war fünf, wollte Tierärztin werden und übte sich seit Längerem in der Kunst der Diagnose.
»Willst du’s ganz ehrlich wissen?«, fragte Maik, wobei er die Worte lang zog, um Zeit zu gewinnen. Denn er musste nachdenken. Den genauen Tathergang hatte er sich nur in Grundzügen zurechtgelegt, vor allem, um bei der Polizei
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