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Der Vollzeitmann

Titel: Der Vollzeitmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Achim Achilles
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den Kinderwagen schaukeln ließ. Parks oder die gediegene Stille von Altbaustraßen machten das Baby dagegen unruhig. Von Vogelgezwitscher erwachte Norbert bisweilen. Guter Junge, dachte Martin, wird wenigstens kein Esoteriker.
    Ihre Freunde, die Eltern, die Konkurrenz-Brüter in der Kita, eigentlich alle sahen diesen seltsamen Wurm, der Straßenlärm brauchte, um zur Ruhe zu kommen, mit mehr oder weniger offener, nicht selten vorwurfsvoller Sorge. Dorothea auch. Sie litt unter den unausgesprochenen Befürchtungen. Die Botschaft war klar: Wenn bereits der Säugling derlei offenkundige Deformationen in sich trägt, dann sind erstens die Gene der Eltern schuld, zweitens deren Erziehung, und drittens weiß man jetzt schon, dass Kindheit
und Jugend von schweren Problemen überschattet sein werden: Therapien, Ritalin, Schulversagen, Kriminalität, Drogenabhängigkeit. Dorothea hoffte immer noch auf Anzeichen von Hochbegabung. Doch auch bei großzügigster Auslegung waren nicht die geringsten Indizien zu entdecken. Selbst die Zähne waren ziemlich spät gekommen. Und laufen konnte er auch noch nicht. Dafür brauchte der Kleine wahrscheinlich jetzt schon eine Brille. Martin würde ein tolles Gestell aussuchen, aus schwarzem Horn.
    »Der moderne Mann und die moderne Frau hatten sich bis zur Unkenntlichkeit angeglichen.«
    Martin fand Norberts Eigenart in Wirklichkeit großartig. Ein echter Kerl, mit einem amtlichen Hau, so wie sich das gehört, dachte er, auch wenn er sich das niemals zu sagen trauen würde. Jede Bemerkung, die auch nur entfernt die Rollenbilder ihrer Eltern hochleben ließ, war riskant, weil sie ihn als rückständig auswies, als stumpfen Macho. Dabei ließ sich Norberts Spleen sehr gut damit erklären, dass seine Mutter sechs Wochen nach der Entbindung wieder im Fernseh-Studio stand, was ihr in der Bunten das Etikett »Powerfrau« eingebracht hatte und den Status einer »Gewinnerin der Woche«. Dafür kann man eine Macke beim Kind schon mal riskieren.
    Dorotheas Weltbild war so schlicht wie falsch. Der moderne Mann und die moderne Frau hatten sich bis zur Unkenntlichkeit angeglichen. Jeder konnte den anderen ersetzen. Unterschiede waren gesellschaftlich bedingt und konnten wegerzogen werden.
    Wo sich die Geschlechter aber nicht mehr unterschieden, da waren leider Erotik, Lust, Spannung, eigentlich alle großen
Gefühle gleich mit auf der Strecke geblieben. Auf seinen morgendlichen Ausfahrten mit Norbert hatte sich Martin eingehend mit diesem Thema befasst. Und er hatte eine großartige Theorie entwickelt, die seinen Ruf als Anführer einer neuen deutschen Denker-Generation begründen würde. NIWRAD, so hieß das Konzept: DARWIN, nur rückwärts.
    Er hatte den Beweis erbracht, dass die Evolution sich mit der Emanzipation umgekehrt hatte und eben nicht mehr fortlaufende Optimierung mit sich brachte, sondern im Gegenteil einen permanenten Sinkflug der menschlichen Entwicklung eingeleitet hatte.
    Die Theorie hatte noch einige Schwächen, aber die könnte man auf dem semantischen Wege glätten. Wichtig war eine steile These. Und die hatte er.
    Martin schnupperte. Der Geruch frischer Croissants zog ihn magisch an. Dorothea hatte seit einem halben Jahr jedes Kohlenhydrat aus ihrer Küche verbannt und auf Kräuter- und Pulverernährung unter streng basischem Diktat umgestellt. Dorothea machte jeden Ernährungs-Schnickschnack mit, wenn sich dahinter auch nur der geringste Ansatz einer glaubwürdigen Story verbarg, warum ausgerechnet diese Scharfgarbe-Alanin-Mischung nun zu ewiger Schönheit führte. Als TV-Moderatorin vermietete man ja weniger seine rhetorische Brillanz als vielmehr eine geringfügige optische Überdurchschnittlichkeit. Dicke Titten plus dummes Zeug reden war eine wesentlich quotenträchtigere Kombination als Flachbrust mit hochschlauwitzigen Bemerkungen.
    »Er hatte den Beweis erbracht, dass die Evolution sich mit der Emanzipation umgekehrt hatte und eben nicht mehr fortlaufende Optimierung mit sich brachte.«

    Der unmenschliche Zwang zu ewiger Schönheit, der auf einer zweifachen Mutter weit schwerer lastete als auf just der Pubertät entwachsenen Wetterfeen hatte das Zeitalter von Spaghetti alla puttanesca und Honigbrötchen schlagartig beendet.
    »Im Sender machen jetzt alle Jentschura «, sagte Dorothea. Toll, dachte Martin, welch ein machtvolles Argument.
    Was ist, wenn sich im Sender alle einen Liter Botox-Collagen-Cocktail in die Arschfalten jagen? Und die Partner gleich mit. Obwohl: Wenn

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