Der Vollzeitmann
Verzicht auf alle historischen Bezüge und das Lob der deutschen Mutter. Andererseits waren da die Kür-Variablen, zum Beispiel die Garderobe, das Maß an Schlüpfrigkeit oder die Reklame-Hurerei. Diese Variablen ließen sich wie in einer Excel-Tabelle mit mathematischer Präzision gegeneinander verschieben, bis eine nahezu perfekte Performance entstanden war.
Ob im Show-Geschäft, in der Wirtschaft oder im öffentlichen Nahverkehr - Erfolg war immer skalierbar.Was nicht skalierbar war, war wiederum nichts wert. Selbst Gefühle waren messbar in ihrer Auswirkung auf das Geschäftsergebnis. Wenn zum Beispiel gute Laune einen nachweislichen Einfluss auf den Umsatz hatte, dann war gute Laune eben ein Erfolgsfaktor.
Attila hatte festgestellt, dass er in den letzten Jahren zu wenig Wert auf gute Laune gelegt hatte. Auch deswegen hatte er mit der Lauferei angefangen: Waden stählen, Glückshormone
her, ein bisschen Ruhe und Natur, Anerkennung allenthalben und Ausdauer obendrein. Zähigkeit war ein weiterer, ganz entscheidender Erfolgsfaktor, fest verankert im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Wer Marathon oder Triathlon als Hobby angab, bekam deutlich bessere Noten bei deutschen Personalchefs, hatte eine Studie festgestellt, aber nur, sofern die Zeiten stimmten. Marathon unter drei Stunden, das war das Signal, dass einer nichts anderes mehr im Kopf hatte als Laufen. Autisten aber waren für ein Unternehmen eher Gefahr als Bereicherung, außerhalb des Controllings jedenfalls.
Marathon über vier Stunden wiederum bewies, dass derjenige sich nicht wirklich quälen konnte, einfach nur zum Spaß gelaufen war und die halbe Strecke wahrscheinlich gewalkt. Peinlich für ein Unternehmen, erst recht, wenn es sich um eine Führungskraft handelte, und noch viel mehr, wenn sich Filmchen vom walkenden CEO eines Tages auf Youtube wiederfanden.
Ideal war ein Marathon in dreieinhalb Stunden - ambitioniert, aber nicht verbissen, durchaus Sport, aber nicht bis zum Crash der letzten Muskelfaser. Die ideale Führungskraftzeit.
Attila hatte sich exakt drei Stunden, neunzehn Minuten und siebenundzwanzig Sekunden vorgenommen. Diese Zeit würde der Bindinger lebenslang im Nacken sitzen, wie die Krallen eines Greifvogels; die würde sie nie mehr loswerden. Sie würde davon träumen, jede Nacht, in blutigem Schweiß gebadet. Sie würde ihn verfluchen. Aber das würde ihn nur stärker machen.
Das Problem dabei: Er musste vier Minuten und fünfundvierzig Sekunden auf den Kilometer laufen, zweiundvierzigmal hintereinander. Trotz eines knappen halben Jahres Training, angeleitet von einem Personal Coach, war Attila
noch ein grausam weites Stück entfernt von seiner Traumzeit. Er hatte inzwischen eingesehen, dass man Laufleistung nicht erzwingen, sondern nur kontinuierlich aufbauen konnte.
Die Regeln des Laufens standen im fundamentalen Gegensatz zu den Gesetzen in seinem Job. Als Berater musste er den Unternehmen immer die Story vom langfristig geplanten nachhaltigen Aufbau erzählen, in Wirklichkeit aber sehr schnell Resultate bringen. Das ging am Ende immer nur mit hektischem Personalabbau, den man mehr oder weniger kunstvoll rechtfertigen musste, am besten mit ein paar zusammengenagelten Studien zur Effektivität von Abläufen. Ab einer bestimmten Fremdwortdichte kam ohnehin kein Praktiker mehr mit.
Beim Laufen war es genau umgekehrt: Da wurde immer die gleiche Story vom schnellen Glück erzählt, aber in Wirklichkeit handelte es sich um einen langwierigen Prozess, der sich weder mit Zaubertricks noch mit Studien wesentlich abkürzen ließ. Das Rezept lautete: Training, Training, Training, am besten außerhalb des Wohlfühlkorridors. Attila war fasziniert von der Anmut schonungsloser Ehrlichkeit, die dem Laufen innewohnte. Marathon-Training, das war eine sehr lange Zen-Meditation, die Hunderte von Coaching-Stunden ersetzte.
Attila schaute auf seine GPS-Uhr. Er war noch nicht mal eine Dreiviertelstunde unterwegs, hatte alle verfügbaren Gedanken bereits durchdacht, aber doch erst knapp über acht Kilometer absolviert. Machte ungefähr fünf Minuten auf den Kilometer. Und er hatte jetzt schon keine Lust mehr.Acht Läufer waren ihm bislang entgegengekommen. Faszinierend, wie viele Menschen mitten in der Nacht aufstanden, um ihr Trainingsprogramm zu absolvieren. Attila war fest überzeugt gewesen, der einzige disziplinierte
Mensch in dieser Hauptstadt der Nutzlosigkeit zu sein, der so früh so schnell rannte, als wäre der Teufel hinter ihm
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